Süddeutsche Zeitung

Türkei:Eine Nacht, die an Krieg erinnert

  • Nach einer dramatischen Nacht ist klar, dass der versuchte Militärputsch gegen den türkischen Präsidenten Erdoğan gescheitert ist.
  • 161 Zivilisten und Sicherheitskräfte sowie 104 Putschisten sind dabei ums Leben gekommen.
  • Tausende Menschen gingen auf die Straße, um gegen den Umsturzversuch zu demonstrieren - damit hatten die Umstürzler offenbar nicht gerechnet.
  • Die türkische Regierung beschuldigt den islamischen Prediger Fethullah Gülen, hinter dem Putsch zu stecken, und fordert seine Auslieferung aus den USA.
  • Im Laufe des Tages sind zwei Generäle und fast 3000 weitere Armeeangehörige festgenommen worden - Erdoğan spricht davon, die Streitkräfte zu "säubern".
  • Politiker aus aller Welt mahnen zur Zurückhaltung.

Die Bilder aus der Türkei erinnerten an ein Kriegsgebiet: Die ganze Nacht über fielen Schüsse, waren Explosionen zu hören. In Istanbul blockierten Panzer die Bosporusbrücken, Soldaten eröffneten das Feuer auf Demonstranten. Kampfjets donnerten im Tiefflug über die Stadt und verursachten dabei einen so heftigen Knall, dass Fensterscheiben barsten. Auch über der Hauptstadt Ankara kreisten Kampfflugzeuge und Militärhubschrauber. Das Parlamentsgebäude wurde durch Beschuss beschädigt. Es war eine der dramatischsten Nächte, die das Land jemals erlebt hat.

Teile des Militärs hatten in der Nacht auf Samstag versucht, gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu putschen. Sie besetzten den staatlichen Rundfunksender TRT und ließen eine Erklärung verlesen, wonach sie die Macht übernommen hätten. Die nachfolgenden Stunden verliefen chaotisch, doch der Putsch ist gescheitert. Die Lage sei nun "vollständig unter Kontrolle", erklärte Ministerpräsident Binali Yıldırım am Samstagmittag in Ankara. Der Umsturzversuch sei ein "Schandfleck für die türkische Demokratie". Die Nation habe aber die bestmögliche Antwort auf die Terroristen gegeben.

In der Nacht waren Tausende Türken dem Aufruf des Präsidenten gefolgt und auf die Straße gegangen, um gegen den Putsch zu protestieren. Für viele von ihnen endete die Nacht tödlich: Insgesamt kamen nach offiziellen Angaben 161 Zivilisten und Sicherheitskräfte ums Leben, zudem wurden 104 Putschisten getötet. Mindestens 1440 Menschen wurden verletzt.

Regierung beschuldigt Predigers Gülen, hinter dem Putsch zu stecken

Als Schuldigen machte der türkische Premier Yıldırım eine "Parallelstruktur" in den Streitkräften aus, aus der heraus der Putschversuch unternommen worden sei - gemeint ist die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, der seit 1999 im US-Exil lebt. Auch Erdoğan sieht Gülen als Drahtzieher der Ereignisse der vergangenen Nacht und fordert von den USA, ihn auszuliefern. Gülen war jahrelang ein Verbündeter der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP, Ende 2013 kam es aber zum Bruch.

Der türkische Arbeitsminister Süleyman Soylu deutete an, die USA steckten selbst hinter dem Umsturzversuch. Die USA wies den Vorwurf zurück. Außenminister John Kerry betonte, eine Auslieferung zu prüfen, sobald ein Antrag vorliege. Die USA werde etwaige vorgelegte Beweise überprüfen "und diese dementsprechend bewerten".

Erdoğan wirft Anhängern der Bewegung vor, Sicherheitskräfte, Polizei und Justiz zu unterwandern und die Regierung stürzen zu wollen. Ob tatsächlich Gülens Netzwerk hinter den Geschehnissen der vergangenen Nacht steht, ist jedoch unklar. Fethullah Gülen selbst wies die Vorwürfe der Regierung zurück und kritisierte den Putsch-Versuch als undemokratisch. Möglicherweise habe Erdoğan selbst die Aktion inszeniert, sagte Fethullah. Beobachter halten für möglich, dass kemalistisch orientierte Generäle hinter dem Angriff auf die Regierung stecken.

Für ihren "Hochverrat" würden die Aufständischen einen Preis zahlen, sagte der Präsident. Er kündigte eine "Säuberung" der Armee an: "Dieser Aufstand ist für uns eine Gabe Gottes, denn er liefert uns den Grund, unsere Armee zu säubern." Nach Angaben des Regierungschefs seien bisher fast 3000 Armeeangehörige festgenommen worden. Darunter sind auch zwei Generäle, die jeweils einen der vier großen Teile der Landstreitkräfte kommandieren. Yıldırım brachte zudem die Wiedereinführung der Todesstrafe ins Gespräch.

Im Laufe des Tages sind 2745 der insgesamt etwa 15 000 Richter der Türkei abgesetzt worden. Zudem seien fünf Mitglieder des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte vom Dienst entbunden worden, meldete die Nachrichtenagentur Anadolu. Gegen die Juristen liefen Ermittlungen, hieß es zur Begründung. Mindestens ein, nach anderen Berichten zwei Verfasssungsrichter sind festgenommen worden.

Der Präsident hatte sich zum Zeitpunkt des Aufstands in dem Urlaubsort Marmaris befunden. In der Nacht traf er auf dem Atatürk-Flughafen in Istanbul ein. Den Putschisten warf er vor, kurz nach seiner Abreise sein Hotel in Marmaris bombardiert zu haben. Noch vor seiner Ankunft hatte Erdoğan per Video-Telefonat im Fernsehsender CNN Türk an seine Landsleute appelliert, auf die Straße zu gehen und die Regierung zu verteidigen.

Am Samstagmittag rief er erneut per SMS die Bevölkerung auf, sich auf den Straßen einem "kleinen Kader" entgegenzustellen. Erdoğan-Anhänger skandierten "Gott ist groß" und "Nein zum Putsch". Fernsehbilder zeigten, wie sich Menschen den Panzern entgegenstellten. Auf der Bosporusbrücke ergaben sich schließlich die Soldaten. Demonstranten mit türkischen Flaggen und Erdoğan-Schals bestiegen die Panzer.

Offenbar haben die Umstürzler die Zustimmung zu ihrem Schritt falsch eingeschätzt. Denn auch Gegner des Präsidenten versagten dem "Rat für den Frieden in der Heimat" die Gefolgschaft. Weite Teile der Armee schlugen sich auf die Seite der Regierung, und alle drei Oppositionsparteien - die kemalistische CHP, die nationalistische MHP und selbst die prokurdische HDP - verurteilten den Umsturzversuch einhellig.

Dabei hatten die Putschisten offenbar detaillierte Pläne für die Zeit der Militärherrschaft: Eine Liste soll Namen für die Besetzung von 100 Posten enthalten haben. Für die Zeit unmittelbar nach der Machtübernahme sahen sie eine Mediensperre vor. Tieffliegende Kampfjets hätten dafür sorgen sollen, dass die Menschen in ihren Häusern bleiben.

Am Samstagabend versammelten sich in Istanbul und Ankara tausende Menschen und feierten das Scheitern des Umsturzversuchs.

Reaktionen aus aller Welt

Politiker aus aller Welt riefen zur Zurückhaltung auf. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier verurteilte den Putschversuch und äußerte sich "zutiefst beunruhigt". EU-Ratspräsident Donald Tusk sagte, die Türkei sei ein Schlüsselpartner für die EU. "Die EU unterstützt voll und ganz die demokratisch gewählte Regierung, die Institutionen des Landes und die Herrschaft des Rechts." US-Präsident Barack Obama appellierte an alle Parteien, die demokratisch gewählte Regierung zu unterstützen. Die Türkei müsse so schnell wie möglich wieder den Weg der Stabilität und Ordnung einschlagen, sagte ein Sprecher des russischen Präsidenten Wladimir Putin.

In der Türkei und im Ausland wird nun befürchtet, dass Erdoğan den vereitelten Putsch-Versuch dazu nutzt, um noch härter als bisher gegen seine Gegner vorzugehen. Grünen-Chef Cem Özdemir sagte der Welt am Sonntag: "Erdoğan wird sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, nicht nur das Militär gründlich zu säubern und sein Projekt einer Verfassungsänderung mit dem Ziel der Alleinherrschaft endgültig zu realisieren".

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Quelle:
SZ vom 16.07.2016/cag/ewid
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