Türkei:Ein Waisenhaus als Kampfzone

Ein leeres Kinderheim in Istanbul gehörte einst Armeniern. Nun protestieren auch türkische Aktivisten gegen den Abriss.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Tuzla heißt dieser Ort am Rande von Istanbul. Die Wohlhabenden haben sich in ihre Villen zurückgezogen. Man sieht oft nur die Dächer, so hoch stehen die Hecken hier. Ein Stadtviertel aus grünen Mauern. Und mittendrin steht die Ruine eines armenischen Waisenhauses. Man findet sie nicht sofort. Aber handgemalte Schilder mit schön geschwungenen Buchstaben weisen den Weg zu diesem Ort, den es eigentlich nicht mehr geben soll: "Kamp Armen".

Ende April kam der Bagger. Seither fehlt am Gebäude des ehemaligen Kinderheims ein Flügel. Wenn sich nicht Leute wie Zafer Sagurt, Student und derzeit Aktivist, den Bauarbeitern in den Weg gestellt hätten, wäre wohl gar nichts übrig geblieben. Seit der Aktion ist der verlassene Ort zu neuem Leben erwacht. Ein Protest-Camp ist entstanden, mit Zeltlager und Programm für Gäste: Konzerte, Lesungen, wer will, darf gärtnern. Hier ist jetzt immer was los, bis in die Nacht hinein. Gerade so, als solle hier nie wieder Stille herrschen.

Im Gedenkjahr zum Völkermord an den Armeniern, bei dem vor 100 Jahren bis zu 1,5 Millionen Menschenleben ausgelöscht wurden, ist ein kleines Waisenhaus am Rande Istanbuls zur Kampfzone geworden. Auf der einen Seite die armenische Kirchengemeinde, die um ihren Besitz kämpft. Auf der anderen Seite der türkische Staat, der das Grundstück in den Achtzigerjahren beschlagnahmt hatte. Bis heute enthält er Armeniern überall im Land noch Eigentum vor. Für Kamp-Besetzer Sagurt ist die Sache klar: "Der Völkermord wird fortgesetzt", sagt er. "Der Staat möchte, dass einfach nichts übrig bleibt." Nicht einmal Ruinen. "Diese Straßen gehören uns!", hat jemand mit schwarzer Farbe an die Wand geschrieben. Und: "Vergiss nicht deine Geschichte!"

Die Geschichte von Kamp Armen begann 1962. Die Stiftung der armenischen Gedikpaşa-Kirchengemeinde kaufte einem Einheimischen das nur 500 Meter vom Meer entfernte Grundstück ab. Die Gemeinde suchte einen Platz für ein Sommerlager und ein Internat für die vielen armenischen Kinder, die ihre Heimat in Anatolien verlassen hatten. In den Jahrzehnten nach dem Völkermord gab es kaum mehr etwas, das sie in der Provinz hielt. Keine Schulen, keine Kirchen, keine Krankenhäuser. Oft nicht einmal mehr Familie.

Türkei: Das Waisenhaus Kamp Armen sollte einem Apartmentkomplex weichen. Vor kurzem wurden die Bauarbeiter von Aktivisten gestoppt.

Das Waisenhaus Kamp Armen sollte einem Apartmentkomplex weichen. Vor kurzem wurden die Bauarbeiter von Aktivisten gestoppt.

(Foto: Ozan Kose/AFP)

Tuzla war noch nicht von den Reichen entdeckt worden. Die Kinder packten mit an, sie schleppten Wasser und Steine zur Baustelle. An der Fensterscheibe des ehemaligen Speisesaals kleben Fotos von damals. Sie zeigen glückliche Kinder. Sie hatten sich ein Zuhause gebaut. Unten befanden sich Zimmer für die Lehrer und der große Speisesaal. Oben rechts schliefen die Mädchen, links die Jungen.

Auch Hrant Dink lebte hier. Er wurde zur Stimme der Armenier in der Türkei

Auch Hrant Dink kam hierher, mit acht Jahren. Wer verstehen will, warum so erbittert um eine Ruine gekämpft wird, der muss diesen Namen kennen. Als Gründer der zweisprachigen Wochenzeitung Agos wurde er zum wichtigsten armenischen Journalisten, zur Stimme der Armenier in der Türkei. Ein Kämpfer für die Sache, aber auch ein Versöhner. 2007 wurde er auf offener Straße in Istanbul erschossen.

Im Kinderheim, erzählte Dink einmal, habe er gelernt, was es bedeutet, Armenier in der Türkei zu sein. 1974 wurde ein umstrittenes Gesetz verabschiedet, das es erlaubte, den nichtmuslimischen Stiftungen allen Besitz abzunehmen, der nicht schon vor 1936 registriert worden war. Als hätten sie nicht schon oft genug alles verloren, folgte eine weitere Enteignungswelle. Der Rechtsstreit um Kamp Armen zog sich über Jahre hin. 1983 verlor die Kirchengemeinde, das Grundstück wurde vom Staat konfisziert. Hrant Dink, der seine Frau Rakel hier kennenlernte, heiratete und dessen Kinder dort geboren wurden, beschloss, von nun an für seine Identität zu kämpfen. Vor ein paar Tagen sprach Rakel Dink zu den Aktivisten. Sie sagte, die Geschichte von Kamp Armen dürfe nicht mit dem Abriss enden.

Die Armenier kämpfen längst nicht mehr allein für ihre Sache. An ihrer Seite stehen jetzt oft Türken, die das Unrecht aus der Vergangenheit nicht länger verschweigen wollen. In Kamp Armen übernachten regelmäßig 20 bis 25 Aktivisten. Man muss lange herumfragen, bis man jemanden mit armenischen Wurzeln zu Gesicht bekommt. Arthur Daniel Kalk zum Beispiel. Sein Vater war mit den Kindern des Waisenhauses befreundet. Nun hält der 18-Jährige hier Wache und wechselt sich mit Leuten ab, die er zum ersten Mal sieht. "Mein Wunsch wäre, dass hier eine Begegnungsstätte entsteht", sagt er.

Türkei: Zafer Sagurt setzt sich für die Rückgabe von armenischem Besitz ein.

Zafer Sagurt setzt sich für die Rückgabe von armenischem Besitz ein.

(Foto: Szymanski)

Dieses Waisenhaus geht längst nicht mehr nur die Armenier etwas an. Tagsüber bringen die Besetzer über 1000 Leute zusammen. Am Freitagabend marschierte ein Protestzug durch die Istiklal Caddesi, die beliebte Einkaufsstraße im Herzen Istanbuls. "Wir bleiben hier, bis Kamp Armen zurückgegeben wird", riefen sie. Zwar hat der türkische Staat vor Jahren begonnen, enteigneten Besitz zurückzugeben. Neue Gesetze wurden erlassen und Hürden abgebaut. Aber nur einem kleinen Teil der Anträge wurde stattgegeben. Vielen anderen Betroffenen bleibt nur der Gang vor Gericht.

Es ist nicht so, dass der heutige Besitzer des Grundstücks nicht mit sich reden ließe. Fatih Ulusoy gilt als umtriebiger Unternehmer in Istanbul. Den Grundstückwert gibt er mit umgerechnet etwa acht Millionen Euro an. Die armenische Gemeinde müsste es kaufen - ein zweites Mal. Das war die Ausgangslage, als die Proteste losgingen. Inzwischen ist Kamp Armen zum Politikum geworden. Es ist Wahlkampf in der Türkei, am 7. Juni wird ein neues Parlament gewählt. Es vergeht kaum ein Tag ohne Solidaritätsbekundungen für Kamp Armen im Netz. Nun sah sich offenbar auch die alleinregierende AKP gezwungen, darauf zu reagieren. Der Fall ging hoch bis zu Regierungschef Ahmed Davutoğlu, der wiederum - das berichten Parteifreunde - seine Istanbuler Spitzenpolitiker in Bewegung setzte.

Am Wochenende meldete sich Grundbesitzer Ulusoy zu Wort: "Geld ist nicht alles im Leben." Er sei bereit, das Grundstück den Armeniern zu spenden. "Die Türkei braucht Einheit und Gemeinsamkeit. Egal ob wir Armenier, Türken, Kurden sind. Wir sind alle Bürger dieses Landes und wir sind Brüder." In Kamp Armen lagen sich die Brüder jedenfalls schon mal in den Armen. Es gibt Hoffnung.

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