Türkei:Ein Sieg der Moral

Die Wahl in Istanbul wirft einen Schatten auf Erdoğans Sonnenkönigreich. Die Menschen haben genug von Ausgrenzung und Spaltung, sie sehnen sich nach Harmonie. Ob der Präsident daraus lernt?

Von Christiane Schlötzer

Am 24. Juni vor einem Jahr hat die Türkei ihren Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan gewählt. Damit war der Einstieg in das neue System absoluter Macht verbunden, das Erdoğan sich selbst auf den Leib geschneidert hat. Ein Präsidialsystem, das auf Kontrolle und Korrektur, auf Checks and Balances weitgehend verzichtet. Ein Jahr später, wieder an einem 24. Juni, bestaunt die Türkei ein Wahlergebnis, das einen tiefen Schatten auf Erdoğans Sonnenkönigreich wirft. Der Präsident hat sich verrechnet, seine Macht ist keinesfalls absolut, das Volk redet immer noch mit, die demokratischen Reflexe der Türkei sind nicht tot.

In Istanbul wurde nur ein Oberbürgermeister gewählt, der aber wirkt nicht zufällig wie eine Antithese zu Erdoğan. Der Mann verweigert sich jeder scharfzüngigen Polarisierung, seine liebste Geste ist die Umarmung, er verbindet mehr als dass er trennt. Er geht auf Kurden zu und auf Konservative, ist säkular im Sinn der republikanischen Verfassung der Türkei und dazu ein gläubiger Sunnit, der im Gegensatz zu manchen seiner Parteikollegen sich nie lustig machen würde über die Religiösen. Dass der Oppositionspolitiker Ekrem Imamoğlu, dessen Namen vor ein paar Monaten landesweit kaum jemand kannte, mit diesen Eigenschaften die Wahl in Istanbul klar gewinnen konnte, zeigt, wie sehr sich viele Türken nach mehr Harmonie und gesellschaftlicher Aussöhnung sehnen - nach Jahren der politischen Dämonisierung und Ausgrenzung Andersdenkender.

Ohne die allgemeine Verunsicherung durch eine tiefe Wirtschaftskrise aber hätte Imamoğlu wohl nicht so eindeutig gewonnen. Er versprach seinen Wählern, sich vor allem dem Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und die wachsende Armut im reichen Istanbul zu widmen. Die Wirtschaftskrise legt zudem die Schwachstellen des neuen Herrschaftssystems offen. So wurde der Posten des Finanzministers dem Präsidentenschwiegersohn anvertraut, das riecht nach Patronage. Die Inflation hat lange nicht gekannte Höhen erreicht, das Wachstum stockt.

Nicht an allem ist Erdoğan schuld, die Türkei ist auch Opfer globaler Trends. Aber der Präsident erleichtert die Lage nicht, indem er sich in politische Händel verstrickt. Die Türkei kauft ein russisches Raketensystem und riskiert dafür Sanktionen der USA und Zweifel an ihrer Nato-Treue. Erdoğan kultiviert die Sehnsucht vieler Türken nach Unabhängigkeit und belebt den patriotischen Stolz. Er kennt die historischen Traumata des Landes, das Territorium der heutigen Türkei war einst westliches Beutegut. Aber mit seinen außenpolitischen Alleingängen führt der Präsident sein Land auch in die Isolation, das hat der Türkei noch nie gut getan.

Die AKP, Erdoğans Partei, habe die Wahl in Istanbul verloren, weil sie zuvor ihre "moralische Überlegenheit" verloren habe. Das hat ein Abgeordneter der Regierungspartei in der Wahlnacht getwittert; er forderte seine Partei auf, zu Rationalität, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung zurückzukehren. Meint der Mann das ernst, müsste er jetzt die Abschaffung des Präsidialsystems verlangen und die Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie in der Türkei. Man darf jedenfalls auf innerparteiliche Gärprozesse in der AKP gespannt sein.

Was die politische Moral betrifft: Für viele Istanbuler war die von der AKP erzwungene Wahlwiederholung ein Akt, der ihr Gerechtigkeitsempfinden verletzte, weil Imamoğlu die Wahl am 31. März ja schon gewonnen hatte. Er war 18 Tage im Amt, als ihm die oberste Wahlbehörde die Ernennungsurkunde wieder wegnahm, weil die AKP Angst um ihre Pfründe in der Megastadt hatte, weil sie um Aufträge für regierungsnahe Baufirmen und Privilegien für parteiaffine Stiftungen fürchtete. Das war so durchsichtig, dass selbst AKP-Anhänger stutzig wurden. Auch aus dem konservativen Lager bekam Imamoğlu nun Zuspruch. Andernfalls wäre sein Rekordergebnis von 54,2 Prozent der Stimmen - das höchste seit 35 Jahren in Istanbul - nicht erklärbar.

Auch Wähler der linken prokurdischen Partei HDP haben der Opposition geholfen, sie stellen mindestens zehn Prozent der Wahlberechtigten in Istanbul. Um die Kurden zu verwirren, hatte die Regierung sogar versucht, den inhaftierten PKK-Gründer Abdullah Öcalan einzuspannen. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu verbreitete einen aus Öcalans Inselgefängnis herausgezauberten Brief, in dem dieser die Kurden zu "Neutralität" aufforderte. Der Versuch lief ins Leere. Es zeigte die Verzweiflung der AKP, dass sie selbst einen verurteilten Terroristen als Wahlhelfer rekrutieren wollte.

Erdoğan vermied es, im Wahlkampf den Namen des Oppositionskandidaten auszusprechen. Er meinte wohl, das Gespenst eines ernst zu nehmenden Gegners damit bannen zu können. Das ist misslungen. Aber gewonnen hat in Istanbul nicht ein einzelner Mann, gewonnen hat die Demokratie - und verloren hat die Idee, einer allein könnte die Türkei regieren.

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