Türkei:Ein Mann rechnet ab

Türkei: Opfer der Eskalation: Trauernde am Sarg einer Kurdin, die bei einer Schießerei mit der Polizei in Istanbul ums Leben gekommen ist.

Opfer der Eskalation: Trauernde am Sarg einer Kurdin, die bei einer Schießerei mit der Polizei in Istanbul ums Leben gekommen ist.

(Foto: Cagdas Erdogan/AP)

Recep Tayyip Erdoğan will seine Macht sichern. Dabei stören ihn die Kurden gewaltig. Und seine Wut richtet sich keineswegs nur gegen die radikale PKK.

Von Mike Szymanski

Zieht jetzt die nächste Generation von PKK-Kämpfern in die Berge? Ist denn nie Schluss in diesem Krieg, der Kurden-Konflikt heißt? Wer vor ein paar Monaten in den kurdischen Gebieten im Osten der Türkei unterwegs war, in der Provinz Dersim zum Beispiel, konnte noch Hoffnung spüren. Die Insignien des Terrors schienen zu verblassen. Die drei Buchstaben PKK, mit roter Farbe an einen Fels gemalt, waren dort zwar noch zu erkennen. Der Regen hatte die Farbe aber fast schon abgewaschen. Von der PKK, der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei, war nicht mehr viel zu sehen.

Oder das Newruz-Fest der Kurden in Diyarbakır. PKK-Führer Abdullah Öcalan, der seit 1999 im Gefängnis sitzt, hatte erst vergangenen März einen Brief verfasst, der dort vorgetragen wurde. Eine Friedensbotschaft. Es sei an der Zeit, die "gnadenlose" und "zerstörerische" Geschichte zu beenden und eine Ära des "Friedens und der Brüderlichkeit" zu beginnen, hieß es darin. Der Kampf könne nicht länger fortgesetzt werden. In der türkischen Regierung sah man das genauso. Ihr war klar, die PKK war mit Waffen nicht zu besiegen. Ankara kam den Kurden entgegen, sie erhielten Fernsehen in ihrer Sprache und durften in der Öffentlichkeit wieder Kurdisch reden. Es war Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der das Land so weit gebracht hat. Frieden schien nach mehr als 30 Jahren blutiger Auseinandersetzungen möglich zu sein.

Ein Irrtum. Der Kampf wird jetzt fortgesetzt. Einerseits mit Waffen. Seit Ende vergangener Woche fliegen türkischen Streitkräfte Einsätze gegen kurdische Stellungen, und die Polizei geht mit Razzien gegen PKK-Anhänger vor. Auslöser war die Bluttat von Suruç; in der Grenzstadt zu Syrien hatte ein 20-jähriger Selbstmordattentäter mit Verbindungen zu den Terrormilizen des Islamischen Staates 31 Menschen in den Tod gerissen. Die Tat war gegen die Kurden gerichtet. Die PKK übte Vergeltung - an zwei türkischen Polizisten, die sie für Komplizen hielt. Andererseits wird der Krieg mit Worten fortgesetzt: Fast beiläufig, auf dem Weg zu einer China-Reise, erklärt Erdoğan am Dienstag den Friedensprozess für beendet. Kanzlerin Angela Merkel und andere einflussreiche Politiker hatten ihn davor gewarnt. Aber das hat Erdoğan nicht aufgehalten. Er steht am Flughafen und sagt: "Es ist nicht möglich, einen Lösungsprozess fortzuführen mit denjenigen, die die Einheit und Integrität der Türkei untergraben."

Abgeordnete in Ankara sollen ihre Immunität verlieren, droht der Staatschef

Es liegt kein Bedauern in seiner Stimme, nur Härte. Mit aller Entschlossenheit werde er nicht nur gegen die PKK vorgehen, sondern auch gegen die HDP. Das ist die parlamentarische Vertretung der Kurden. Mit ihr hat er eine Rechnung offen. Die HDP schaffte bei der Parlamentswahl am 7. Juni 13 Prozent der Stimmen. Sie hatte damit nicht nur die Zehn-Prozent-Hürde genommen, die gilt, um Parteien wie die HDP aus dem Parlament herauszuhalten. Sie hatte auch die Macht von Erdoğans Regierungspartei AKP gebrochen. Diese verlor in der Wahlnacht die absolute Mehrheit und kann das Land seither nicht mehr alleine regieren.

Erdoğan wird von Journalisten gefragt, ob die HDP wegen ihrer Nähe zur PKK verboten werde. "Parteien zu verbieten finde ich nicht richtig", beginnt Erdoğan. Aber die Anführer sollten zur Verantwortung gezogen werden, wenn sie Verbindungen zu Terrororganisationen hätten. Diese Politiker sollen ihre Immunität als Abgeordnete verlieren. Erdoğan will die HDP fertigmachen. Anders kann man seine Worte an diesem Dienstag kaum deuten. Er kommt auf die kurz vor der Wahl verabschiedeten Sicherheitsgesetze zu sprechen. Demnach sollen Polizisten in bestimmten Situationen auf gewalttätige Demonstranten schießen dürfen, ohne zuvor selbst angegriffen worden zu sein. Durchsuchungen und Festnahmen sollen erleichtert werden. Den Zugang zu fast 100 Internetseiten kurdischer und linker Gruppen hat die Regierung schon gesperrt. Erdoğan sagt: "Die letzten Sicherheitsgesetze wurden nicht erlassen, um sie in den Büchern zu lassen." Der Präsident ist dabei, einen Sicherheitsstaat zu schaffen, in dem Kritiker keinen Platz haben. Polizei und Geheimdienst warnen schon vor weiteren Anschlägen in den großen Städten des Landes. Im einem Klima der Angst stellt Erdoğan die HDP als Bedrohung dar.

Angst, Chaos, Gewalt - davon könnte die AKP bei Neuwahlen profitieren

Die Parlamentswahl ist jetzt bald zwei Monate her. Doch noch immer hat das Land keine neue Regierung. Erdoğan hat sich lange Zeit gelassen, seinen Premier Ahmet Davutoğlu mit Koalitionsgesprächen zu beauftragen. Die ersten Treffen mit der Opposition brachten keinen Durchbruch - nur die säkulare CHP ist überhaupt noch bereit, mit der AKP ein Bündnis einzugehen, damit das Land in dieser schwierigen Zeit zumindest eine Regierung hat. Aber will Erdoğan das überhaupt? Die Türken haben mit Koalitionsregierungen kaum gute Erfahrungen gemacht. Die innenpolitisch stabilste Zeit erlebte das Land in den 13 Jahren, in denen nur die AKP das Sagen hatte. Daran will Erdoğan anknüpfen. Angst, Chaos, Gewalt. Ihm könnte das helfen, wenn es zu Neuwahlen kommt - was immer wahrscheinlicher wird.

Am Dienstag tritt Selahattin Demirtaş in Ankara vor seinen Anhängern auf. Er ist der Mann, der die HDP mit sensationellen 13 Prozent ins Parlament geführt hat. Die internationale Presse nannte ihn nach der Wahl "Kurden-Obama". Er hat mit seiner smarten, humorvollen Art viele Wähler auch außerhalb der Kurden-Hochburgen gewonnen. Für sie war die Nähe zur PKK kein Grund mehr, die HDP nicht zu wählen. Er hatte sie überzeugt, dass Frieden auch ohne Gewalt zu erreichen ist.

Die HDP kann aber nur so lange erfolgreich sein, wie die PKK ihrerseits die Waffen schweigen lässt. Noch ist nicht abzusehen, wer bei den Kurden künftig den Ton angibt: die radikalen Kräfte in der PKK oder Menschen wie Demirtaş. Er sagt in Ankara: "Unser einziges Verbrechen war es, dass wir 13 Prozent der Stimmen gewonnen haben." Die Regierung suche nun "voller Wut" nach Wegen, um die Mehrheit zurückzugewinnen. Die Immunität verlieren? Demirtaş sagt, die HDP-Abgeordneten seien dazu bereit, sie würden das sogar selbst beantragen. An die AKP-Abgeordneten gerichtet aber will er wissen: "Seid ihr auch bereit dafür?"

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