Nach Militärputsch:So erbarmungslos verändert Erdoğan die Türkei

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Premierminister Binali Yıldırım (vorne, Dritter von rechts) besucht mit den Offizieren des Obersten Militärrats das Mausoleum des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk in Ankara. (Foto: Adem Altan/AFP)

Die türkische Regierung macht nicht nur dem Militär klar, dass eine neue Zeit angebrochen ist.

Analyse von Mike Szymanski, Istanbul

Der Hohe Militärrat, der YAŞ, tagt. Aber dieses Mal ist nichts wie in den Jahren zuvor. Es geht schon damit los: Wer kommt zu wem? Und wer sitzt dann noch mit am Tisch?

Der türkische Premier Binali Yıldırım hat die hohen Generäle zu sich in seinen Palast bestellt. Früher traf man sich im Çakmak-Saal im Hauptquartier der Streitkräfte. Die Politiker zu Gast bei den Generälen. So herum hat es das Militär immer gerne gehabt. Der Generalstabschef ist zwar dem Premiersamt untergeordnet, der Staatspräsident ist wiederum Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Das hat die Generäle aber nie davon abgehalten, sich als autonomes Machtzentrum im Land zu fühlen. Dieses Mal lässt Yıldırım aber die Generäle zu sich kommen. Das alleine ist schon eine Demütigung. Aber er mutet den Militärs an diesem Tag noch viel mehr zu.

Es ist jetzt fast zwei Wochen her, dass Teile der Armee versucht haben, gegen die Regierung unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan zu putschen. Das Datum 15. Juli 2016 wird bald in den türkischen Geschichtsbüchern stehen. Als der Tag, an dem Soldaten die Waffen gegen die eigenen Bürger richteten. Zu Zehntausenden gingen diese trotzdem nachts auf die Straße, um den Putsch zu verhindern.

Sprichwort: Jeder Türke wird als Soldat geboren

Es gab Zeiten in der Türkei, da hatten die Menschen mehr Vertrauen ins Militär als in ihre Parteien. Und es gibt das Sprichwort: Jeder Türke wird als Soldat geboren. Und heute? Muss Yıldırım klarstellen: Die Nation habe gezeigt, dass sie ihren Willen keinem Machtzentrum unterordne. Yıldırım sagt das nicht irgendwo. Er sagt das beim gemeinsamen Besuch mit den Generälen am Mausoleum von Republik-Gründer Atatürk. Einem Mann des Militärs. Jetzt dürfen sich die Generäle von Yıldırım anhören, dass "Millionen von unseren Bürgern ihr Land und ihre Demokratie beschützt hätten".

Er wünscht sich, dass die Beschlüsse des Hohen Militärrats dem Land "Glück bringen". In jedem Fall werden sie eine andere Armee hervorbringen. Es geht gar nicht anders. Mehr als ein Drittel aller Generäle und Admiräle steht im Verdacht, am Putsch beteiligt gewesen zu sein. In der Putschnacht hat Erdoğan quasi in letzter Minute von einem Bekannten erfahren, dass ein Aufstand gegen ihn läuft. Am Donnerstagabend melden türkische Zeitungen, er wolle den Generalstab und den Geheimdienst künftig direkt unter seiner Kontrolle haben. Offiziell bestätigt wurde das zunächst nicht.

Die Runde beim Premier tagt bis in den Abend. Sie ist aber nicht vollständig. Der frühere Luftwaffenchef, General Akın Öztürk, fehlt. Verhaftet, weil die Regierung ihn für den Anführer des Putsches hält. Adem Huduti, Kommandeur der Zweiten Armee und als Kriegsheld verehrt: ebenfalls im Gefängnis. Am Mittwoch waren 149 Generäle unehrenhaft aus den Streitkräften entlassen worden. So stümperhaft der Putsch auch teilweise durchgeführt worden zu sein scheint, es war mehr als nur ein kleiner Aufstand. Die Armee hat jetzt Zahlen veröffentlicht: 8651 Militärs beteiligten sich demnach an dem Putschversuch. 35 Flugzeuge, 37 Hubschrauber, 74 Panzer und drei Kriegsschiffe hatte sie unter ihrer Kontrolle gebracht. Per Dekret wurden Küstenwache und Gendarmerie bereits dem Innenministerium unter Efkan Ala unterstellt. Der will nun auch die Polizei des Landes mit schweren Waffen ausrüsten.

"Wir werden nicht so tun, als sei nichts geschehen", sagte er. Davon kann sowieso keine Rede sein. Seit der Putschnacht macht der Staat erbarmungslos Jagd auf die Verräter und all jene, die er dafür hält. Zum Drahtzieher des Putsches hat die Regierung Fethullah Gülen erklärt, einstiger Weggefährte Erdoğans. Mit Hilfe des Predigers und dessen Netzwerk hatte Erdoğan über Jahre hinweg seine Widersacher im Staatsapparat kaltgestellt. Die Gülen-Leute galten als gut ausgebildet und nicht korrupt. Sie schafften es schnell, in einflussreiche Posten aufzusteigen. Das war der Plan. 2012 bekam das Macht-Bündnis allerdings Risse, aus Weggefährten wurde Gegner. Erdoğan befürchtet seither, dass sich das Gülen-Netzwerk gegen ihn richtet. Jetzt will er den ganzen Staat von Gülens Anhängern "säubern".

Nach Militär und Polizei bleibt kein Winkel der Gesellschaft verschont. Seit Anfang der Woche haben die Behörden die Medien ins Visier genommen. Per Notstands-Dekret hat Erdoğan die Schließung Dutzender Medien angeordnet, es geht um drei Nachrichtenagenturen, 16 Fernsehstationen, 23 Radiosender sowie 45 Zeitungen, die nach Regierungsangaben Beziehungen zu Gülens Bewegung haben sollen. Darunter ist auch die Zeitung Zaman, die bereits im März unter Zwangsverwaltung gestellt worden war. Am Mittwoch hat die Staatsanwaltschaft die Festnahme von 47 ehemaligen Zaman-Mitarbeitern angeordnet. Zuvor war bereits mit Haftbefehl nach 42 Journalisten anderer Medien gesucht worden.

Inzwischen dürfte der Staat gegen 60 000 Menschen vorgegangen sein

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Die Fernsehsender zeigen den Sicherheitsapparat bei der Arbeit: Wie Polizisten vor Wohnungstüren stehen und mutmaßliche Gülenisten abführen. Alte, Junge, Menschen in Uniform und ohne. Mehr als 15 800 Menschen sind festgenommen worden, gegen mehr als 8100 wurde Haftbefehl erlassen.

Nimmt man noch all die entlassenen Lehrer und suspendierten Staatsbeamten hinzu, dürfte der Staat locker gegen 60 000 Menschen vorgegangen sein. Es wurde schon gemutmaßt, im September könne die Schule nicht wie geplant anfangen, weil niemand mehr da sei zum Unterrichten. Aber danach sieht es nicht aus. Zehntausende ausgebildete Lehrer wären arbeitslos gewesen und hätten nur auf ein Job-Angebot gewartet, heißt es im Parlament in Ankara. Ein Politiker der ultranationalistischen Partei MHP berichtet, dass plötzlich ihre Anhänger wieder Chancen hätten, in den Polizeidienst aufgenommen zu werden. Zuvor hätten "Gülenisten" dafür gesorgt, dass sie dort keine Jobs bekämen. Alles wird in diesen Tagen umgewälzt. Jeder versucht, Beute zu machen.

Auf den Straßen Istanbuls weht derweil die Türkei-Fahne. Ein Land sieht rot. Am Flughafen Atatürk, in der Putschnacht kurzzeitig von Soldaten besetzt, sind aus Anti-Putsch-Demonstranten Dauercamper geworden. Sie schwenken die Halbmond-Fahne morgens, mittags, abends und nachts. Die öffentlichen Verkehrsmittel kosten bis zum Monatsende nichts. Allabendlich kommen Erdoğan-Anhänger auf dem Taksim zusammen. Sie wollen damit erst aufhören, wenn Erdoğan dies anordnet.

© SZ vom 29.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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