Süddeutsche Zeitung

Türkei:Ein Jahr in Erdoğans Hand

Der Journalist Deniz Yücel erzählt mit quälender Genauigkeit von seiner Untersuchungshaft. Dabei übt er auch Selbstkritik. Trotzdem ist es ein Buch nicht nur in Moll.

Von Christiane Schlötzer

Permanente Spannung, schreibt Deniz Yücel, gehöre in der Türkei "zum Herrschaftsprinzip". Diese Analyse wirkt wie ein aktueller Kommentar zur türkischen Syrien-Invasion, auch wenn sie auf Seite 283 des Buches steht, dessen Manuskript der Journalist Deniz Yücel im Mai 2019 abgeschlossen hat, 15 Monate nach seiner Freilassung nach einem Jahr türkischer Untersuchungshaft. "Agentterrorist. Eine Geschichte über Freiheit und Freundschaft, Demokratie und Nichtdemokratie" heißt dieses Buch, das gerade erschienen ist. Darin schildert Yücel die Tage vor seiner Festnahme im Februar 2017 wie einen Kriminaltango und die Zeit im Gefängnis mit quälender Genauigkeit, aber auch mit seinem besonderen Sinn für die Komik. Erheiterndes und Tröstendes findet sich selbst in einem so tristen Ort wie einem türkischen Hochsicherheitsgefängnis.

Aber Yücel hat nicht nur eine genaue Rekonstruktion seiner Zeit in Silivri verfasst, seine Abrechnung ist mehr als ein Knasttagebuch, er hat auch ein türkisches Geschichtsbuch geschrieben, in dem er das persönlich Erlebte immer wieder mit dem grundsätzlich Politischen verbindet. Mit dem Putschversuch von 2016, dem Aufstieg von Recep Tayyip Erdoğans AKP, den jüngsten Kommunalwahlen. Protagonisten, die ihn zu seinen Analysen anregen, laufen ihm ja sogar im Gefängnis über den Weg: nach dem Putschversuch entlassene Offiziere, geschasste Staatsanwälte, Polizisten. Yücel bleibt auch in der Haft Journalist, er recherchiert, interessiert sich für die Schicksale anderer, nicht nur für sein eigenes. Meist sind es nur kurze Begegnungen, zufällig auf dem Gefängnisgang, über eine Hofmauer hinweg, auf dem Weg zu den Besucherkabinen, wo Anwälte, deutsche Diplomaten und immer wieder seine Frau Dilek auf ihn warten.

Sogar im Knast gibt es seltene Momente der Komik

Dabei schont sich der Autor selbst nicht, er erzählt offen und oft bewegend, wie er immer wieder mit Dilek, die er im Gefängnis geheiratet hat, in Streit gerät, wie viel Spannung er aus der langen Isolationshaft (erst nach neun Monaten wird er in eine Zelle verlegt, in der er Kontakt über einen Hof zu einem anderen Journalisten hat) weitergibt an seine Freunde, seine Anwälte. Auch mit seinem Arbeitgeber, der Zeitung Die Welt, gerät er immer wieder aneinander und auch mit den Diplomaten, die so viel für ihn getan haben, wie er in einer langen Danksagung am Schluss notiert. Er nennt sich selbst "ungerecht", geißelt seine "Macken", zum Beispiel alles immer besser wissen zu wollen; so wollte er die Kampagnen für seine Freilassung am liebsten selbst noch aus der Haft heraus führen.

Erst auf den letzten Seiten enthüllt Yücel dann, was er mit "Folter" meinte. Diesen Vorwurf hat er erst nach seiner Rückkehr nach Deutschland erhoben, und er erklärt auch, warum das so war. Liest man die Passagen, dann versteht man Yücels Panik. Sie würde jeden ergreifen, der sich dem ausgesetzt sieht, hinter Gitterstäben, einer Gruppe von sechs Männern, Aufsehern, gegenüber, die ihn erst beschimpfen, dann boxen, auch einmal ins Gesicht schlagen und vor allem bedrohen. Einer aus der Gruppe tut das, sagt, dass er wiederkommen und noch Schlimmeres mit ihm machen würde. An einem Ort, wo es keine Kameras im Gefängnis gibt. Denn gewöhnlich stehen auch die Wächter selbst unter Aufsicht, auch dieses System beschreibt Yücel genau und detailversessen.

Aber Yücel und sein Anwalt erstatten auch Strafanzeige gegen die übergriffigen Wächter. Und sie wenden sich an einen AKP-Politiker, der ebenfalls entsetzt ist, und offenbar das Nötige veranlasst. Die Wächter werden abgezogen. Das Verfahren gegen die Männer wird später zwar eingestellt, aber für Yücel bleibt es eine Genugtuung, dass er sich auf diese Weise gewehrt hat. Und er sagt auch, was er ertragen musste, sei nicht vergleichbar mit dem, was Menschen früher in türkischen Gefängnissen an körperlicher und seelischer Folter erlitten haben. Einer, den er trifft, erzählt ihm auch davon, und Yücel verfolgt das bis in seine Träume. Dass er in den drei Tagen, in denen sie ihn quälten, zweimal den Kopf auf Befehl der Wächter beugte, auf dem Gefängnisgang, das beschämt ihn noch lange, wie er schreibt. Am dritten Tag widersetzte er sich.

Am Ende strapaziert er auch noch die Nerven seiner diplomatischen Retter

Aber "Agentterrorist" ist kein Buch nur in Moll, dafür ist Yücel ein zu guter Erzähler. In dem Kapitel "Bei Tayyip um die Hecke" berichtet er, wie er sich vor seiner befürchten Festnahme in der Sommerresidenz des deutschen Botschafters versteckte. Die liegt Hecke an Hecke mit dem Gelände des Istanbuler Präsidentenpalasts, im Stadtteil Tarabya, mit Bosporusblick. Sieht nach Luxus aus, hinter den Holzfassaden geht es aber eher spartanisch zu. Die Konspirationsfähigkeiten, die deutsche Diplomaten aufbringen mussten, um das Versteck geheimzuhalten, werden Erdoğan später mit dazu dienen, Yücel als "Ajanterörist" zu bezeichnen, als "Agentterrorist". Den Begriff hatte zuvor die regierungstreue Zeitung Aksam  erfunden.

Die Verhaftung von Yücel hatte die deutsch-türkischen Beziehungen schwer belastet. Wie Kanzlerin Angela Merkel, der damalige Außenminister Sigmar Gabriel, Altkanzler Gerhard Schröder und der damalige Generalkonsul in Istanbul, Georg Birgelen, sich für ihn einsetzen, dafür hat Yücel großen Respekt und sagt dies auch. Seine Freilassung ist letztlich ein politisches, diplomatisches Kunststück. Aber dies darf nicht so kunstvoll erscheinen, weil der Schein gewahrt werden muss, dass die türkische Justiz unabhängig sei.

Das wissen alle Beteiligten. Aber Yücel strapaziert am Ende die Nerven seiner diplomatischen Retter noch einmal auf alle erdenkliche Weise. Weil er darauf besteht, dass es keinen "Deal" mit den Türken gegeben hat, dass er keine Handelsware ist - Panzer gegen als Geisel genommenen Journalisten. Diesen Deal gab es, wie Yücel später recherchiert hat, wirklich nicht.

Wie es seine Freunde am Ende dann mit ein paar Tricks schaffen, den überrumpelten, überglücklichen Freigelassenen ins Flugzeug zu lotsen, das ist auch ein heiteres Husarenstück. Und in diesem Fall ist Yücel einmal nicht der Regisseur.

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Quelle:
SZ vom 14.10.2019
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