Türkei:Erdoğans Tiraden sind Symptom einer Entfremdung

Demo gegen Armenien-Resolution

Auch in Deutschland demonstrierten die Mitglieder von mehreren türkischen Verbänden gegen die Armenien-Resolution des Bundestags.

(Foto: dpa)

Die jüngsten Ausfälle des türkischen Präsidenten verstärken die Zerrüttung im deutsch-türkischen Verhältnis. Umso wichtiger ist es jetzt, den Dialog zu suchen.

Kommentar von Christiane Schlötzer

Es ist 22 Jahre her, da wurde Cem Özdemir erstmals in den Bundestag gewählt. Das hatte es zuvor noch nicht gegeben: ein Sohn türkischer Gastarbeiter als deutscher Abgeordneter. Eine beliebte Radioshow hieß damals Bonn am Rohr, und was der erste Anrufer von Özdemir wissen wollte, klingt heute gestrig, streng nach Rheinischer Republik: Ob er, weil doch Muslim, beschnitten sei, und was so einer im Bundestag zu suchen habe? Özdemir antwortete nach einer Schrecksekunde: In den Bundestagsrichtlinien sei zur männlichen Vorhaut nichts zu finden.

Wer sich daran erinnert, darf lachen. Insofern hat sich das deutsch-türkische Verhältnis entspannt. Wobei es hier eigentlich um ein deutsch-deutsches geht, schließlich sind Leute wie Özdemir oder Muhterem Aras, deren Wahl zur Landtagspräsidentin in Baden-Württemberg jüngst nur die AfD erregte, längst deutsche Staatsbürger.

An ihre Wurzeln wurden die türkischstämmigen Abgeordneten im Bundestag dafür zuletzt von Recep Tayyip Erdoğan erinnert, der sie zu Vaterlandsverrätern mit "verdorbenem Blut" erklärte, weil sie den Völkermord an den Armeniern auch Völkermord nannten. Erdoğans Angriff zielte unter die Gürtellinie, er ist kruder Rassismus. Der türkische Präsident würde die elf Parlamentarier mit türkischen Wurzeln wohl gern noch mal persönlich ausbürgern, wie das die Türkei früher mit Dissidenten tat.

Gastarbeiterkinder sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen

Erdoğans Tiraden sind aber auch Symptom einer Entfremdung. Je weiter die Kinder und Enkel der Gastarbeiter in die Mitte der deutschen Gesellschaft gerückt sind, je selbstverständlicher sie ihren Platz in Parlamenten, der Nationalmannschaft, in Betriebsräten und auf Theaterbühnen einnehmen, desto ferner stehen sie der Heimat ihrer Vorfahren. Wer einen deutschen Pass hat, ist als Wähler für Erdoğan verloren. Und auch als Rekrut für die türkische Armee, die sich - im Wechselspiel mit kurdischen Scharfmachern - gerade immer tiefer in eine Gewaltspirale hineinschraubt.

Familiäre Bindungen von drei Millionen Menschen werden zwar noch auf sehr lange Zeit ein starkes Band zwischen Berlin, Istanbul und Izmir und von München in anatolische Dörfer sein. Aber als Mobilisierungsmasse, als Fünfte Kolonne, eignen sich die Migranten und deren Erben - zum Ärger Ankaras - nicht mehr.

Das heißt nicht, dass sich nicht Einzelne aufhetzen ließen. Türkische Nationalistenvereine, in Deutschland eher marginale Gruppen, schüren seit der Armenien-Resolution offenen Hass. Grünen-Chef Özdemir erhält Morddrohungen. Moschee-Gemeinden, von Ankara abhängig, haben Bundestagspräsident Norbert Lammert zum Ramadan wieder ausgeladen. Zu den Aufwieglern gehören auch einzelne türkische Medien, die den jüngsten Autobombenanschlag in Istanbul zum "deutschen Werk" erklärten. Übler geht es kaum.

Was bleibt da noch von der in Feierstunden beschworenen deutsch-türkischen Freundschaft? Es war dies oft schon eine einseitige Liebe, und wie das in Beziehungsdramen so ist, passen die Erzählungen über die Zerrüttung nie zusammen. Ist in der Türkei vom Ursprung dieser Stress-Beziehung die Rede, dann ist damit eine Affäre gemeint, von der man hier eher nichts mehr hören will: die Waffenbrüderschaft zwischen Osmanen und Deutschem Kaiserreich.

Deutsches Wirtschaftwunder auch ein türkisches

In Stichworten: Bau der Bagdadbahn, Erster Weltkrieg, Schlacht bei Gallipoli. In diese Zeit fällt auch das aktive Wegschauen deutscher Generäle und Diplomaten während jener Massaker an Armeniern, an die der Bundestag nun so einmütig erinnert hat.

Nicht lange danach sind einige Deutsche dem Holocaust nur entronnen, weil sie in Atatürks junger Republik Asyl fanden. Berühmte Leute waren darunter, wie Ernst Reuter, später Regierender Bürgermeister von Berlin. Bei uns ist das eher unbekannt, in der Türkei unvergessen.

Dann, vor 55 Jahren, brachte das Anwerbeabkommen Anatolier an die Fließbänder von BMW und VW, weil so viele Deutsche im Krieg geblieben waren. Das deutsche Wirtschaftswunder war auch ein türkisches, italienisches, griechisches. Später, nach drei Militärputschen, wurde Deutschland zur Zuflucht verjagter Linker und vieler Kurden. Welche Anpassungsleistung viele Zugewanderte vollbrachten, wurde von den Deutschen lange nicht verstanden. Trotzdem wurde es eine ziemlich gelungene Integration - aufs Ganze gesehen.

Deutsche und Türken dürfen Dialog nicht aufgeben

Wollen türkische Rentner ihre deutschen Enkel besuchen, brauchen sie ein Visum. Deutsche fahren mit dem Personalausweis nach Kappadokien und Antalya. Deutsche halten das für normal, Türken für Schikane. Dass die Türkei kein Arme-Schlucker-Land mehr ist, ist vielen erst aufgefallen, als sie in Istanbul Bars oder die Biennale besucht haben.

Warum aber auch viele Deutsch-Türken stolz darauf sind, wie sich ihre alte Heimat - gerade unter Erdoğan - entwickelt hat, können Deutsche meist schwer verstehen, weil sie in Erdoğan nur den Buhmann sehen, hinter dem alles andere verblasst, was zwischen Kayseri und Bosporus geschieht. Übersehen zu werden, frustriert wiederum in der Türkei alle Kritiker von Erdoğans Egotrip.

Hinter dessen Hau-Drauf-Rhetorik steckt Strategie. Der Mann spaltet sein Land - zum Machterhalt. Denn die Kraftmeierei vermittelt ein Gefühl von Stärke, nach dem Motto: Holla, wir Türken sind auch wer! Fehler zuzugeben, auch historische, passt da nicht ins Bild. Erdoğans Konfliktkurs polarisiert bis in türkische Familien hinein, die am Esstisch nicht mehr über Politik reden, weil sonst der Opa aufsteht oder der Enkel explodiert.

Was nun selbstverständlich sein sollte: Schutz in Taten und Worten für die angegriffenen Abgeordneten, wie Lammert es getan hat; Bindungen stärken, nicht schwächen, den Dialog mit Ankara nicht aufgeben, aber dort nicht nur mit Erdoğan reden; und Beziehungsarbeit, wie es die Armenien-Resolution fordert. Die verlangt ein Mitwirken an der Verständigung von Türken und Armeniern. Das geht auch bei uns: in Schulen, Moschee- und Kirchengemeinden. Schließlich ist das Wissen über die eigene Geschichte meist nicht aus bösem Willen gering, aber je geringer es ist, desto leichter haben es die Propagandisten der Unversöhnlichkeit.

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