Süddeutsche Zeitung

Wahlkampf in der Türkei:Ein Grenzgänger will ins Parlament

  • Mustafa Erkan könnte der erste Politiker werden, der für völlig unterschiedliche politische Lager sowohl in einem deutschen als auch im türkischen Parlament saß.
  • Für die SPD saß er im niedersächsischen Landtag, für Erdoğans Partei AKP kandidiert er jetzt für die türkische Nationalversammlung.
  • Wegen Schröder trat er in die SPD ein - jetzt bewundert er Erdoğan und Çavuşoğlu.

Von Luisa Seeling, Antalya

Er ist bestens vorbereitet, es ist ja nicht sein erster Wahlkampf. Mehr als 17 Stunden wird Mustafa Erkan auf den Beinen sein, bei schwülen 30 Grad von Tür zu Tür gehen. Er hat Kugelschreiber eingepackt, darauf das Glühbirnen-Logo seiner Partei. Für die Kinder Malbücher, und für sich frische Hemden, außerdem wasserlösliches Vitaminpulver, Geschmacksrichtung Erdbeere. Das darf erst abends zum Einsatz kommen - es ist Fastenzeit.

Erkan, 33, geboren in Neustadt bei Hannover, tritt bei der Wahl am 24. Juni für die türkische Regierungspartei AKP an. Für den Wahlkreis Antalya will er in die Große Nationalversammlung in Ankara einziehen. Das allein ist noch nicht bemerkenswert, er ist einer von 600 AKP-Kandidaten, die um ein Mandat kämpfen. Erkan wäre auch nicht der erste Deutschtürke, der im türkischen Parlament sitzt.

Erkan sagt, er sei schon immer gerne Wahlkämpfer gewesen

Er wäre aber der erste, der in beiden Ländern für völlig unterschiedliche politische Lager ein Mandat gehabt hätte: Noch bis vor wenigen Monaten saß Erkan für die SPD im niedersächsischen Landtag. Ein deutscher Sozialdemokrat mit türkischen Wurzeln, perfekt integriert, gut ausgebildet, engagiert. Nun ist er hier, in der südwesttürkischen Touristenhochburg Antalya, und kämpft für die islamisch-konservative Partei von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, den viele für einen Despoten halten. Wie geht das zusammen?

An diesem Tag führt Erkans Tour in die 15 000-Einwohner-Stadt Demre, zweieinhalb Autostunden westlich von Antalya. Erkan sagt, er sei schon immer gerne Wahlkämpfer gewesen, "ich mag den Kontakt zu den Menschen, das Unterwegssein". Das politische Speeddating, das ihm heute bevorsteht, bringt ihn dann doch an den Rand seiner Kräfte: 60 Ladenlokale in 60 Minuten - reingehen, Hände schütteln, ein paar Sätze sagen. Ein paar Schritte weiter das Ganze von vorne. Erkan wischt sich den Schweiß von der Stirn.

Der Wahlkreis Antalya ist das, was man in den USA einen "Swing State" nennen würde, bei den Wahlen im November 2015 errang die AKP eine Mehrheit, beim Referendum im vergangenen Jahr stimmten fast 60 Prozent gegen Erdoğans Präsidialsystem. Diesmal wurde die Wahl sehr kurzfristig angesetzt, Mustafa Erkan hat nur ein paar Wochen, um sich in der Region bekannt zu machen. Umfragen zufolge könnte es knapp werden für die AKP; nicht ausgeschlossen, dass sie ihre absolute Mehrheit verliert. Erkan steht in Antalya auf Listenplatz 10 von 16. Für einen Neuling nicht schlecht, aber auch keine sichere Bank. Wobei Neuling nicht ganz passend ist: Insgesamt ist Erkan ja, wie er gerne betont, "seit 18 Jahren im politischen Geschäft".

Wegen Schröder trat Erkan in die SPD ein

Seine Eltern stammen aus der Nähe von Antalya, vor fast 50 Jahren kamen sie nach Niedersachsen. Der Vater arbeitete bei Volkswagen am Fließband. Erkan hat zwei Ausbildungen gemacht, als Industriemechaniker bei VW und als Gewerkschaftssekretär. In Neustadt war er Schülersprecher, Vorsitzender des SPD-Ortsvereins und Vizebürgermeister. Er ist Muslim, auch wenn er, wie er einräumt, in diesem Jahr das erste Mal durchgehend fastet. Sein Türkisch hat einen deutschen Akzent, er ist Staatsbürger beider Länder. In seiner Brust, sagt er, schlagen "zwei Herzen, ein deutsches und ein türkisches". 2013 wurde Erkan mit 27 in den niedersächsischen Landtag gewählt, als jüngster Abgeordneter. Zur Fußball-WM 2014 kam er im Deutschland-Trikot.

Von den Ohrringen, die er früher mal trug, zeugen heute nur noch die vernarbten Löcher, er trägt Hemd, Sakko, Lederslipper. Schon als Teenager hatte er diesen Hang zum Ernsthaften: Seine Mitschüler lasen Bravo, er kaufte sich Zeitungen. An seiner Wand hingen Poster von Gerhard Schröder. "Ich fand ihn einfach genial", sagt Erkan; wegen Schröder sei er 2004 in die SPD eingetreten. Der Altkanzler, so erzählt es Erkan, nenne ihn "Musti".

Im April 2017 aber ändert sich abrupt etwas in Erkans tiefer Bindung zu seiner Partei. In Neustadt kommt es zur Kampfabstimmung um die Aufstellung, 20 Delegiertenstimmen entfallen auf Erkan, 20 auf seine Konkurrentin. Am Ende entscheidet das Los; Erkan verliert. "Ich habe schon früher nie den Teddy gewonnen", scherzt er, aber so leicht, wie das jetzt klingt, nahm er die Niederlage nicht. "Jahrelang habe ich mir, auf gut Deutsch gesagt, den Arsch aufgerissen, auf jedem Marktplatz gestanden, auf jeder Apfelsinenkiste - und dann entscheidet ein Los!"

Im Oktober scheidet Erkan aus dem Landtag aus. Und heuert bald darauf als Berater des türkischen Außenministers an. Mevlüt Çavuşoğlus Wahlkreis ist Antalya, Erkans Familie ist mit ihm bekannt. Über diesen Kontakt habe sich der Job ergeben, sagt er. "Eine Tür hat sich geschlossen, die andere hat sich geöffnet. Klingt wie eine Phrase, aber genau so war es."

Als er den Job antritt, sind die deutsch-türkischen Beziehungen angespannt wie nie. Deniz Yücel, der Welt-Journalist, sitzt im Gefängnis. Auch Meşale Tolu ist noch in Haft. Auf seiner Website kündigt Erkan an, künftig "im vollen Einsatz für die deutsch-türkische Freundschaft" unterwegs zu sein. Im Januar begleitet er seinen Minister nach Goslar. Bei einer Tasse Tee leiten Çavuşoğlu und sein damaliger Amtskollege Sigmar Gabriel das Ende der Eiszeit ein. Als Yücel am 16. Februar freikommt, schickt Erkan per Whatsapp-Nachricht drei Symbole: die türkische Flagge, ein Herz, die deutsche Flagge.

Kritik an Erdoğan kommt ihm nicht über die Lippen

Bis hierhin geht Erkans Wechsel noch als Brückenbau zwischen seinen beiden Heimatländern durch. Aber eine Kandidatur für Erdoğans Partei? Im April sagt Erkan der Hannoverschen Neuen Presse, in manchen Fragen sei die Türkei demokratischer als Deutschland. Als Beispiel führt er die Direktwahl des Präsidenten an. Im selben Monat tritt er aus der SPD aus. Die Partei stehe nicht mehr zu ihren Grundwerten, findet er. Alte Genossen werfen ihm Opportunismus und ein gekränktes Ego vor. Erkan sagt, er habe sich den Schritt reiflich überlegt und sei niemandem Rechenschaft schuldig, "nur weil wir mal zusammen Plakate geklebt haben".

Erdoğan verspricht Normalzustand

Nach der Parlaments- und Präsidentenwahl am 24. Juni soll der seit zwei Jahren geltende Ausnahmezustand in der Türkei aufgehoben werden. Zuerst hatte dies die Opposition für den Fall ihres Wahlsieges angekündigt. Nun hat es auch Recep Tayyip Erdoğan versprochen: "Wenn ich die Berechtigung zum Weiterregieren erhalte, wird unser erster Schritt sein, so Gott will, den Ausnahmezustand aufzuheben", sagte der Präsident in einem TV-Interview. Das Massenblatt Hürriyet kommentierte: "Das ist eine der größten Überraschungen der Wahlkampagne." Premier Binali Yıldırım, dessen Posten mit der Einführung des Präsidialsystems nach der Wahl wegfällt, nannte auch ein Datum: der 17. Juli. Wenn die nächste Verlängerung des Notstands anstünde. Seit dem Putschversuch im Juli 2016 gab es sieben Verlängerungen, alle drei Monate. Während des Ausnahmezustands wurden mehr als 50 000 Menschen verhaftet, mehr als 140 000 verloren ihre Jobs im Staatsdienst, darunter nicht nur mutmaßliche Putschisten, sondern auch oppositionelle Aktivisten, Juristen und Journalisten. Mehr als 2100 Menschen wurden wegen des Putschversuchs bereits verurteilt, etwa 1500 von ihnen zu lebenslanger Haft. Die UN hatten die Türkei unlängst aufgefordert, den Ausnahmezustand rasch zu beenden, es sei schwer vorzustellen, wie sonst glaubwürdige Wahlen stattfinden könnten. Auch die türkische Wirtschaft hatte dies mit Blick auf die bereits erheblichen ökonomischen Folgen verlangt. Erdoğan hatte aber immer wieder erklärt, solche Forderungen würden "den Terror" unterstützen. Dem Präsidenten hat der Ausnahmezustand erlaubt, am Parlament vorbei mit Dekreten zu regieren. Oppositionskandidat Muharrem İnce von der sozialdemokratischen CHP forderte Erdoğan via Twitter auf, seine Ankündigung noch vor der Wahl umzusetzen. Menschenrechtsanwälte hoffen, nach dem Ende des Ausnahmezustands würden sich zumindest für einen Teil der Inhaftierten die Gefängnisse schneller wieder öffnen. Christiane Schlötzer

Kritik an Erdoğan oder an der Verhaftungswelle nach dem gescheiterten Putsch kommt Erkan nicht über die Lippen. Fragt man ihn, ob er es problematisch findet, dass im Ausnahmezustand gewählt wird, guckt er erstaunt: Es entstehe doch keiner Partei ein Nachteil, "da wäre ich der Erste, der dagegen aufstehen würde". Und die inhaftierten Journalisten? Seien nicht wegen ihrer Arbeit im Gefängnis, sondern wegen des Verdachts auf Terrorunterstützung: "Kein türkischer Politiker ist in der Lage, die Justiz zu steuern."

Bewunderung für starke Männer

Wenn Erkan über die AKP spricht, klingt es nicht so, als hätte die Regierung zu den Krisen der vergangenen Jahre irgendetwas beigetragen. Stattdessen verweist er auf die Erfolge. "Vor 15 Jahren war das hier ein anderes Land", sagt er. Erdoğans Partei habe Schulen und Flughäfen gebaut, die Wirtschaft wachse um mehr als sieben Prozent. "Die Türkei ist Europas China", sagt er. "Und jetzt sollen wieder die Leute regieren, die früher nie etwas für das Land getan haben?" Nein, Erkan gibt sich optimistisch: Die kemalistische CHP sei nach Machtkämpfen geschwächt, die nationalistische Iyi-Partei werde überschätzt. Und die prokurdische HDP? Habe längst ihre Maske fallenlassen, "ihre Nähe zu den Terroristen hat viele Menschen abgeschreckt." Erkans Prognose: Erdoğan wird als Präsident im ersten Wahlgang wiedergewählt, "ich schätze, 54 Prozent".

Eines zieht sich wie ein roter Faden durch Erkans Biografie: seine Bewunderung für mächtige Männer. Er schwärmt von den Fähigkeiten Schröders und Gabriels, lässt auf Erdoğan nichts kommen. Sein Chef Çavuşoğlu spreche mehrere Sprachen, sei gebildet und ehrlich. Der wiederum sagte kürzlich, Erkan sei "wie ein kleiner Bruder" für ihn.

Was ist, wenn Listenplatz 10 doch nicht reicht? Gibt es einen Plan B? Eine Rückkehr nach Deutschland will Erkan nicht ausschließen. Aber fürs Erste wirkt er wie jemand, der angekommen ist.

Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels haben wir geschrieben, dass Erkan der erste Mandatsträger wäre, der in beiden Ländern ein Mandat gehabt hätte. Das ist falsch. Der Linken-Politiker Ali Atalan saß von 2010 bis 2012 im Landtag von NRW und sitzt nun für die HDP im türkischen Parlament.

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Quelle:
SZ vom 16.06.2018/csi/cat
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