Süddeutsche Zeitung

Corona in der Türkei:Es geht um Erdoğans Macht

In der Corona-Krise ist vom türkischen Präsidenten wenig zu sehen. Aber Erdoğan ist nicht untätig. Er kämpft innenpolitisch mit harten Bandagen.

Kommentar von Tomas Avenarius, Istanbul

Recep Tayyip Erdoğan ist keiner, der sich kleinmacht. Umso mehr fällt auf, wie selten sich der türkische Staatschef in den letzten Wochen blicken lässt. Ein paar Bilder von Kabinettstreffen im ganz kleinen Corona-Kreis und mit ganz großem Sicherheitsabstand, dazu Ausschnitte aus virtuellen Bildschirmgesprächsrunden mit Staatenlenkern wie Trump, Merkel oder Macron, das schon.

Aber das türkische Gesicht des Kampfs gegen Covid-19 bleibt der blasse Gesundheitsminister. In einem Herrschaftsmodus, in dem außer dem Chef keiner allzu hell strahlen darf, bleibt nur eine Schlussfolgerung: Fahrettin Koca scheint auserkoren, im Fall noch schlechterer Nachrichten den Kopf auf den Block zu legen.

Wenn der Minister Pech hat, wird er das irgendwann tun müssen: In der Liste der am Härtesten von der Pandemie betroffenen Staaten steht die Türkei inzwischen auf Platz sieben. Trotzdem wirkt die Anti-Corona-Politik Ankaras halbherzig. Ausgangssperren von nur wenigen Tagen bestimmen das Bild, die von der Regierung veröffentlichten Zahlen bleiben intransparent und erwecken das Misstrauen auch der eher Vertrauensseligen, eine von wissenschaftlichen Fakten getriebene Anti-Corona-Strategie fehlt.

Alles wirkt unentschlossen. Aber Unentschlossenheit wäre nicht nach Erdoğans Art. Der türkische Präsident mag seine Bürger wie jeder vernünftige Staatschef vor der Seuche schützen wollen, aber ihn treibt die Angst vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch durch Corona um. An der Wirtschaft hängt Erdoğans politische Zukunft.

Die ökonomischen Aussichten werden mit jedem Tag der Pandemie schlechter, die türkische Lira ist im Steilflug nach unten, die zur Stützung genutzten Währungsreserven schrumpfen rasant, der Handel liegt am Boden. Und der Tourismus als eine der Säulen der Wirtschaft wird 2020 kaum tragen.

Erdoğan weiß, was das bedeutet: Wachsende Arbeitslosigkeit und steigende Inflation führen zu anschwellendem Unmut beim Wähler. Jüngste Umfragen zeigen, dass seine AKP zusammen mit ihrem Koalitionspartner derzeit im Parlament keine Mehrheit finden würde, andere Bundesgenossen tun sich im Moment keine auf.

In der Corona-Krise entscheidet sich, wer das Land in Zukunft führen wird

Weil ein Politiker, der sein Land seit zwanzig Jahren regiert, jeden Sinneswandel der Wähler erspürt, bevor er offen zum Ausdruck kommt, stellt Erdoğan den Schutz der Wirtschaft über den Kampf gegen Corona. Zugleich geht er mit gewohnt rauen Methoden gegen jede Kritik vor. Journalisten und Aktivisten, die unangenehme Covid-19-Fakten veröffentlichen, werden wegen Fake News vom Staatsanwalt zur Rechenschaft gezogen.

Die offizielle Opposition geht der Präsident ebenso hart an: Ekrem Imamoğlu etwa, den Oberbürgermeister von Istanbul und eine Anti-Erdoğan-Leitfigur. Angesichts der ineffektiven Seuchenpolitik wollte der Bürgermeister die Istanbuler an den Hilfsprogrammen des Präsidenten vorbei zu Spenden aufrufen und eigene Programme schnüren. Geschuldet war das der Verantwortung für 16 Millionen Menschen, aber gleichzeitig war es auch der Vorgriff auf kommende Wahlkämpfe.

Entsprechend harsch reagierte Erdoğan. Er unterband die Spendenprogramme und warf seinem Gegner vor, einen "Staat im Staate" bilden zu wollen. Offensichtlich haben beide Politiker längst verstanden, dass die Corona-Krise vorbestimmt, wer die Türkei in Zukunft regieren wird.

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Quelle:
SZ vom 27.04.2020/gal
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