Deutschland droht nach dem Umschwenken der Bundesregierung in der Türkei-Politik eine empfindliche Niederlage auf europäischer Ebene. Beim informellen Treffen der EU-Außenminister am Donnerstag in Tallinn formierte sich massiver Widerstand gegen die von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz im Wahlkampf erhobene Forderung, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abzubrechen. Ausdrückliche Unterstützung erhielt Außenminister Sigmar Gabriel nur von seinem österreichischen Kollegen Sebastian Kurz.
In Tallinn schafft es das Thema nicht auf die offizielle Tagesordnung
"Natürlich gibt es Probleme, über die laut und ehrlich gesprochen werden sollte", sagte der finnische Außenminister Timo Soini. Er sei aber dagegen, die Verhandlungen abzubrechen. "Ein Stopp und Abbruch führt zu keinem guten Deal", sagte auch der Litauer Linas Linkevičius. Das ermutige "nur dazu, sich von uns abzuwenden". Der estnische Außenminister und amtierende EU-Ratsvorsitzende Sven Mikser erwartet nicht, "dass die EU in dieser Hinsicht dieses Jahr irgendwelche dramatischen Entscheidungen trifft". Die Frage stehe erst für 2018 an. Dann wird ein neuer Fortschrittsbericht der EU-Kommission vorliegen. Merkel will das Thema schon beim EU-Gipfel im Oktober ansprechen.
Letzte Bundestagssitzung:Merkel will "Beziehungen zur Türkei neu ordnen"
Bei der letzten Bundestagssitzung vor der Wahl warnt die Kanzlerin vor einem öffentlichen Streit Europas über die Türkei. Sie bringt auch eine Aussetzung der EU-Beitrittsverhandlungen ins Spiel.
Die Partner in der EU sind vom Meinungsumschwung in Deutschland überrascht worden und lassen klar erkennen, dass sie sich die Agenda nicht von Äußerungen in einer deutschen Wahlkampfsendung diktieren lassen wollen. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini setzte das Thema beim Treffen in Tallinn nicht auf die Tagesordnung.
Gabriel vermied direkte Forderungen und relativierte die veränderte deutsche Position. "Ich glaube, dass es keine Kehrtwende ist", sagte er. "Ein Land, das Menschenrechte missachtet, den Rechtsstaat infrage stellt, Journalisten inhaftiert, entfernt sich von Europa. Nicht wir entfernen uns von der Türkei, sondern die türkische Regierung entfernt die Türkei von Europa", betonte Gabriel.
Österreichs Außenminister spricht von einer großen Chance
Noch im April hatte er dem österreichischen Außenminister Sebastian Kurz vorgeworfen, dass dessen Forderung nach einem Stopp der Türkei-Verhandlungen "viel mit österreichischer Innenpolitik zu tun hat und wenig mit der Türkei". Darauf angesprochen, verwies Gabriel nun auf die Entwicklung der vergangenen Monate, in denen deutsche Unternehmen der Terror-Unterstützung bezichtigt und deutsche Staatsbürger verhaftet worden seien. Es gebe "einen Punkt, wo wir sagen müssen, das ist eine Politik, mit der wir nicht einfach so weitermachen können, als wäre nichts gewesen".
Sein Kollege Kurz bezeichnete den "Schwenk in Deutschland" als "große Chance". Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn warnte vor einer Spaltung der EU. "Das wäre das Schlimmste", sagte er. Profiteur sei dann nur der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan.
Ein Abbruch der Verhandlungen bedarf der Einstimmigkeit aller Staaten der Europäischen Union. Möglich wäre allerdings auch eine Suspendierung. Hierfür genügen die Stimmen von derzeit 18 der 28 Mitgliedsländer, wenn sie 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren.