Inzwischen sind sie überall zu hören, diese feindlichen Sätze. „Du bist kein Türke“, sagte etwa diese Woche in Antalya ein Mann zu einem jungen Syrer bei einer YouTube-Straßenumfrage: „Du bist blutlos.“ Was so viel heißt wie: Du gehörst nicht zu uns.
Der Syrer erzählte, er sei 18 Jahre alt, er sei als Kind in die Türkei gekommen, er habe Türkisch gelernt und arbeite, während in Syrien noch immer die Bomben des Assad-Regimes fielen. „Na und“, antwortete der Türke, „werden die Palästinenser nicht bombardiert? Ich will dich hier nicht haben.“
Syrer zurück nach Syrien. Geht in euer eigenes Land. Wir wollen euch hier nicht haben. Immer häufiger werden Syrer mit solchen Sprüchen konfrontiert.
Wegen der Ausschreitungen wurden bereits 474 Türken festgenommen
Und es bleibt in diesen Tagen nicht nur bei Worten. Im zentralanatolischen Kayseri soll ein Syrer seine sieben Jahre alte Cousine sexuell missbraucht haben. Der Mann wurde verhaftet – zu Protesten kam es danach nicht nur in Kayseri, sondern auch in anderen Städten, und es kam zu Gewalt: Der Mob attackierte syrische Geschäfte, zündeten Autos an, von denen angenommen wurde, sie gehörten Syrern. In Gaziantep sollen Syrer sogar mit Messern attackiert worden sein.
Vom Ausmaß der Ausschreitungen erzählt die Zahl der Festgenommenen, die der türkische Innenminister am Dienstag verkündete: 474 seien es bisher, so Ali Yerlikaya. Er bat um Ruhe und Vertrauen, der Staat sei „stark“. Auch Präsident Erdoğan sagte, es sei inakzeptabel, wenn sich Einzelne „über die Polizei“ stellten, also über das Gesetz. Der Missbrauchsfall sei „schändlich“, er sei aber dazu benutzt worden, „um Chaos zu stiften.“
Offiziell leben in der Türkei heute 3,6 Millionen syrische Staatsbürger, dazu dürften noch einige kommen, die nicht registriert sind. In den vergangenen Jahren sind sie zunehmend zwischen die Fronten der türkischen Politik geraten.
Die Opposition, auch die säkulare CHP, hat immer wieder die anti-syrische Stimmung angefacht, sie hat gemerkt, dass Recep Tayyip Erdoğan bei dem Thema angreifbar ist. Vor der Stichwahl um die Präsidentschaft vor einem Jahr plakatierte der damalige Kandidat Kemal Kılıçdaroğlu: „Die Syrer werden gehen.“
Zuerst gab Erdoğan der Opposition die Schuld, dann der PKK in Syrien
Anti-arabischer Rassismus ist in der Türkei kein neues Phänomen. Gerade jetzt entlädt er sich auch wegen der Wirtschaftskrise, angesichts einer dramatischen Inflation, die weite Teile der Mittelschicht verarmen lässt. Ihre Unzufriedenheit mit Erdoğans Regierung findet nun auch Ausdruck im Hass auf die Geflüchteten.
Der Präsident weiß um die Stimmung. An den Unruhen dieser Woche gab er zunächst der Opposition die Schuld, deren „toxischer Rhetorik“ nämlich. Am Dienstag dann hatte Erdoğan einen neuen angeblichen Schuldigen ausgemacht, auf den er nach der Kabinettssitzung in Ankara verwies: die kurdische PKK-Miliz. „Wir wissen sehr genau, wer dieses Spiel gespielt hat“, sagte er. „Die separatistische Terrororganisation und ihre Kollaborateure.“
Damit spielte er auch auf aktuelle Vorgänge in Nordsyrien an. Dort, wo die türkische Armee seit Jahren mehrere Gebiete besetzt hält, teils auch kurdische Regionen. Die Türkei hat ihre Militäreinsätze immer mit der angeblichen Bedrohung durch die PKK erklärt, sie unterstützt aber die dortige Opposition, und das seit Beginn des Syrienkrieges.
In der Provinz Idlib halten sich unter dem Schutz der türkischen Truppen mehrere Millionen Geflüchtete aus anderen Landesteilen auf, dort fürchten die Menschen noch immer das Regime von Baschar al-Assad. Der Diktator lässt Idlib nicht bloß bombardieren, er hätte es auch gern zurück unter seine Kontrolle.
Erdoğan will die Beziehung zu Assad normalisieren, schreiben türkische Medien
Dort und anderswo brannten diese Woche türkische Flaggen. Auch Lkws, die von der türkischen Grenze kamen, und türkische Polizeiwagen sind offenbar angegriffen worden. Überprüfen lässt sich das kaum; klar ist aber, dass die Proteste in Syrien eine Reaktion sind: auf die Gewalt in den türkischen Städten einerseits – und auf Recep Tayyip Erdoğans neuesten außenpolitischen Schachzug.
Der türkische Präsident geht gerade auf seinen Intimfeind zu, auf Baschar al-Assad. Er sei bereit, sich mit ihm zu treffen, sagte Erdoğan kürzlich. Dafür soll es schon Pläne geben, von einem möglichen Termin im September ist die Rede, auf neutralem Gebiet: in Russland oder in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Erdoğan wäre wohl an einem Deal mit Assad interessiert, einer „Normalisierung“, wie die Zeitung Cumhuriyet schreibt.
Sollten die beiden sich zum ersten Mal seit 2010 die Hand geben, dürften sie über die syrischen Geflüchteten reden, über eine Rückkehr zumindest einiger, und im Gegenzug über ein Ende der türkischen Präsenz in Nordsyrien. Also über all das, was die Syrerinnen und Syrer auf beiden Seiten der Grenze fürchten. Und was viele Türken unbedingt wollen.