Türkei: Aufregung um Video:Sex und Socken

Ein älterer Herr, eine unbekleidete Dame und ein "Komplott": Ein Internetfilmchen erschüttert die Türkei - und zwingt Deniz Baykal, den Erzrivalen von Premier Tayyip Erdogan, zum Rücktritt.

Kai Strittmatter, Istanbul

Ein "Erdbeben in Ankara" vermeldete der Sender CNN-Türk am Montagnachmittag. Dabei ist das Internetfilmchen von knapp drei Minuten, das die Türkei erschütterte, recht unspektakulär.

Umstritten: Deniz Baykal; AFP

Umstritten: Deniz Baykal

(Foto: Foto: AFP)

Man sieht die nackten stacheligen Beine eines älteren Herren, später den Mann selbst, wie er an der Bettkante sitzt und sich die Socken anzieht. Der Herr aber ist Deniz Baykal, Vorsitzender der Republikanischen Volkspartei CHP, und die Dame, die unbekleidet durchs Bild läuft, eine Abgeordnete seiner Partei.

Nun ist passiert, was keiner für möglich hielt. Deniz Baykal, bald 72 Jahre alt, der Erzrivale von Premier Tayyip Erdogan, der "Mr. No" der türkischen Politik, ist zurückgetreten. Noch seinen Rücktritt nutzte der CHP-Chef zu einer Frontalattacke auf die Regierung, der er ein "Komplott" vorwarf. Der Film hätte "unmöglich ohne die Macht und das Wissen der Regierung produziert" werden können, so Baykal.

Oberster Verhinderer

Deniz Baykal stand einer Partei vor, die gerade 20 Prozent der Stimmen vertritt. Und doch war er eine der wichtigsten Figuren der türkischen Politik. Mit Lust warf er sich in die Rolle des obersten Verhinderers des Landes. Wenn prominente grüne Europaparlamentarier seufzten, angesichts der Opposition in Ankara habe man gar keine andere Wahl, als Premier Erdogan zu unterstützen, dann hatten sie Baykal im Sinn.

Baykals Beitrag zur Innenpolitik erschöpfte sich im Wesentlichen darin, Furcht zu schüren. Mal vor der angeblich drohenden Islamisierung der Republik (der Premier!), mal vor der Spaltung des Vaterlandes (die Kurden, die Christen!). Seine Partei, die CHP, nennt sich sozialdemokratisch; Baykal aber wetterte nicht nur gegen mehr Rechte für Minderheiten, er schimpfte auch gegen die EU und ausländische Investoren.

Dafür warf er sich in die Bresche für die Offiziere und die hohe Justiz, die Bastionen des alten autoritären Systems. Frühere Weggefährten wie der Autor Zülfü Livaneli erklärten öffentlich, die CHP sei unter Baykal eine "nationalistische und militaristische Partei" geworden. Die Sozialistische Internationale drohte Baykals CHP mit dem Rauswurf.

"Kleine Diktaturen"

Baykal hatte Macht, die Macht zur Sabotage: Er lief mit jedem Reformpaket der Regierung zum Verfassungsgericht, um es verbieten zu lassen. Und so dürfen Studentinnen an türkischen Universitäten bis heute keine Kopftücher tragen, und Soldaten der Armee müssen bis heute nicht befürchten, vor zivilen Gerichten angeklagt zu werden.

Auch die soeben vom Parlament verabschiedete Reform der noch von den Putschgenerälen diktierten Verfassung trug Baykal sofort zu den Verfassungsrichtern, in denen er Gleichgesinnte weiß.

Premier Tayyip Erdogan, der wohl ahnte, dass der Verdacht auf ihn fallen würde, sammelte Beifall für seine erste Reaktion: Er befahl dem Geheimdienst MIT, nach den Urhebern des Videos zu suchen, und er untersagte den Abgeordneten seiner Partei, den Skandal auszuschlachten.

Baykal nannte das heuchlerisch, Beobachter wie Autor Livaneli vermuten aber, dass das Video ohnehin aus den Reihen der eigenen Partei stammt. In zwei Wochen ist CHP-Parteitag. Dann wird ein neuer Vorsitzender gewählt. "Parteien hier sind kleine Diktaturen für sich", sagt ein Istanbuler Kolumnist. "Auf demokratischem Wege wären seine Gegner in der CHP ihn nie losgeworden."

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