Süddeutsche Zeitung

Armenien-Politik der Türkei:Angst vor dem Abgrund

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Die türkische Regierung will das Wort vom "Völkermord" an den Armeniern nicht in den Mund nehmen. Sie fürchtet um ihre Politik des Nationalismus und Militarismus - und entfernt sich damit immer weiter vom Westen.

Kommentar von Christiane Schlötzer

Das böse Wort beginnt im Türkischen nicht mit V wie Völkermord, sondern mit S. Genozid heißt soykırım. Und es gibt noch ein zweites S-Wort, das wichtig ist: sorun, das Problem. Türkische Schulbücher erzählen Zehntklässlern vom Ermeni Sorunu, dem Armenierproblem. Dies sei entstanden, weil die Armenier im Ersten Weltkrieg "von einigen Staaten gegen die türkische Nation aufgewiegelt wurden", weshalb die Nation gar nicht anders konnte, als "etwa 700 000 armenische Staatsbürger umzusiedeln". Allein mit dem Ziel, für die "Sicherheit" der türkischen und der armenischen Nation zu sorgen - absurde Geschichtslektionen im Jahr 2015, dem 100. Jahr des Völkermords an den osmanischen Armeniern.

Auch Recep Tayyip Erdoğan, heute 61 Jahre alt, hat als Schuljunge solchen Lernstoff auswendig gelernt und verinnerlicht. Deshalb versteht er wohl auch nicht, wenn der Papst, das EU-Parlament und nun nach langem Zögern sogar der Bundestag das V-Wort benutzen und die Türkei bedrängen, es ihnen gleichzutun.

Es verstehen aber auch die Europäer Erdoğan immer weniger. Deshalb sind beispielsweise Union und SPD in Berlin nicht mehr gewillt, stets Rücksicht auf Ankaras Befindlichkeiten zu nehmen. Dies hat viele Gründe: Die vor zehn Jahren begonnenen EU-Verhandlungen mit der Türkei sind tiefgefroren; Erdoğan hofiert lieber Wladimir Putin und die Gazprom-Gewaltigen, als in Brüssel oder Berlin um Verständnis für sein Land zu werben. Die Regierung in Ankara macht harte Polizeigesetze, die der Willkür die Tür öffnen; und Erdoğan persönlich veranlasst, dass Karikaturisten und Journalisten, die sich die Freiheit der Kritik herausnehmen, zuverlässig vor einem Richter landen.

Erdoğans Furcht vor dem Begriff "Genozid" hat politische Gründe

Das hat zwar nicht alles mit der türkischen Geschichtspolitik zu tun, aber was sich im Inneren der Türkei abspielt, prägt eben auch das Bild des Landes, wie man es sich von außen macht. Und zusammengenommen verursacht es zunehmendes Unverständnis und Distanz. So markiert die Armenier-Resolution, die am Freitag im Bundestag zur Abstimmung steht, nicht nur einen historischen Durchbruch, weil sie, so gewunden das auch formuliert ist, den Völkermord einen Völkermord nennt. Diese Resolution steht zudem für eine Wende im Verhältnis zur Türkei.

Schon vor gut acht Jahren, im Januar 2007, hat auch die Türkei einen Wendepunkt erlebt. Damals wurde in Istanbul Hrant Dink ermordet, der profilierteste und prominenteste armenisch-türkische Versöhner. Der Attentäter war ein 16-jähriger Nationalist. Im Trauerzug für den toten Journalisten, den die Polizei nicht hatte schützen wollen, liefen mehr als hunderttausend Türken mit. Danach trugen viele lange den Anstecker am Revers: "Wir sind alle Armenier" - eine Ungeheuerlichkeit. Die armenische Diaspora staunte, Weltbilder gerieten ins Wanken. Heute gibt es eine hoch angesehene Hrant-Dink-Stiftung in Istanbul, junge Armenier, die voller Neugier an den Bosporus reisen, und alte Türken und Kurden, die ihre armenischen Wurzeln entdecken.

Doch der Staat ist nicht so weit wie zumindest ein Teil der Gesellschaft. Die Regierung scheut jede Selbstkritik, im Hier und Heute, wie beim Blick zurück. Wenn Erdoğan sagt, für die Türkei sei es "niemals möglich, eine solche Sünde, eine solche Schuld anzuerkennen" (wie den Genozid), dann wird die Dimension der Angst deutlich. Es ist die Angst vor einem Abgrund, in dem der ganze staatlich verordnete Nationalismus und Militarismus der Türkei verschwinden könnte, wenn Ankara nicht aufpasst. Deshalb redet man sich ein, dass diejenigen, die der Türkei das V- oder das S-Wort aufzwingen möchten, "nicht wollen, dass die Türkei eine große Macht in der Region wird". Auch das steht in dem Schulbuch.

Der Völkermord war auch ein Raubzug

Es gibt auch - man möchte sagen - banalere Gründe für den verstellten Blick in die Vergangenheit: die Furcht vor Reparationswünschen. Der Völkermord an den Armeniern war wie der Holocaust auch ein Raubzug. Viele bereicherten sich in Anatolien 1915/16 am Gut der Deportierten, so wie einst die Deutschen am Besitz ihrer jüdischen Nachbarn. Deutschland hat lange gebraucht, um sich der Schuld und Verantwortung zu stellen, und bis heute sind Entschädigungsforderungen, siehe Griechenland, nicht vom Tisch.

Deutsche haben damals im Osmanen-Reich, das vor einem Jahrhundert ein enger Bündnispartner war, zugeschaut, als Armenier in die syrische Wüste getrieben wurden. Deshalb sollten die Politiker in Berlin auch jetzt nicht schulmeisterlich auftreten. Die Wende des Bundestags ist richtig, sie hilft den Versöhnern in der Türkei. Denen aber wiederum wird das Leben noch schwerer gemacht, wenn sich die Türkei weiter isoliert. Dazu sollte in Europa daher niemand beitragen.

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Quelle:
SZ vom 22.04.2015
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