Türkei:Ein türkischer Frühling

Türkei: Er gehört zu den erfahrensten Politikern auf der Weltbühne. Am Sonntag droht dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan jedoch eine Wahlniederlage.

Er gehört zu den erfahrensten Politikern auf der Weltbühne. Am Sonntag droht dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan jedoch eine Wahlniederlage.

(Foto: Murad Sezer/Reuters)

Bei der Wahl am Sonntag geht es auch um das künftige Verhältnis zwischen Europa und der islamischen Welt. Wenn Erdoğan verliert, könnte das ein Neuanfang sein. Falls auch die Europäer das wollen.

Von Raphael Geiger, Istanbul

Recep Tayyip Erdoğan hat noch nicht verloren. Der türkische Präsident geht in die Wahlen am Sonntag aber nicht mehr als Favorit, er liegt in den seriösen Umfragen mehrere Prozentpunkte hinter Kemal Kılıçdaroğlu, seinem Herausforderer. Um es mal vorsichtig auszudrücken: Das ist ganz schön irre. Rechnet er selbst schon mit seiner Niederlage? "Wir werden sehen", sagte Erdoğan dazu diese Woche. Früher hätte er gesagt: Wir werden gewinnen!

Den Samstag vor der Wahl verbringt er in Istanbul. In Kasımpaşa, wo er aufgewachsen ist. Sein letzter großer Auftritt vor den Wahlen führt ihn ins Viertel seiner Kindheit, wo seine politische Laufbahn vor ein paar Jahrzehnten begann. Wo immer noch seine treuesten Fans leben. Menschen, die nichts dagegen haben, dass Erdoğan die immer selbe alte Geschichte erzählt. Die war ja mal sehr stark.

Die Geschichte nämlich von einer neuen, glänzenden Türkei, aufgenommen in den Klub der Weltmächte. Ein Land, das sich vom Westen nicht länger herabwürdigen lässt. Erdoğan hat seine Rolle als Anwalt der Missachteten über die Jahre perfektioniert, sie fällt ihm bis heute am leichtesten. Auch in diesem Wahlkampf kam er in Reden immer schnell auf den Westen, auf die Europäer zu sprechen, die angeblich keine starke Türkei wollen. Alle sind gegen uns, hieß das. Weswegen, logisch, der Westen für die Opposition sei. Damit er mit der Türkei wieder spielen kann. Wie früher.

Der türkische Präsident ist auch Pragmatiker, mit dem die Europäer ihre Flüchtlingsdeals schließen konnten

Erdoğan hat diese Rolle nicht nur für seine Wählerinnen und Wähler in der Türkei gespielt. Er wollte auch immer der Anwalt der Muslime sein, und zwar von Syrien über den Gazastreifen bis Somalia. In der arabischen Welt ist Erdoğan noch immer beliebt, vielleicht beliebter als im eigenen Land. Er hat es verstanden, die Leute von ihren Minderwertigkeitsgefühlen zu befreien. Gleichzeitig, das ist das Paradox, lebt er bis heute davon, dass es diese Gefühle gibt. Er muss sie, wie Populisten weltweit, immer wieder bedienen, muss die Gefahr aus dem Ausland beschwören, notfalls erfinden, damit es eine Gefahr gibt, der er sich entgegenstellen kann.

Das ist der eine Erdoğan. Der andere ist jener Pragmatiker, mit dem die Europäer ihre Flüchtlingsdeals schließen konnten. Der mit Putin das Getreideabkommen fürs Schwarze Meer verhandelt - und damit mutmaßlich viel Leid verhindert hat. Erdoğan ist einer der erfahrensten Politiker auf der Weltbühne, bei ihm laufen viele Fäden zusammen. Für Europa war er nicht nur schwierig, er war über die Jahre auch: verlässlich.

Was also, wenn Erdoğan nicht mehr regiert? Ein fast surrealer Gedanke nach zwei Jahrzehnten mit dem Dauerpräsidenten. Eine Türkei ohne ihn wäre eine, in der die Demokratie gewonnen hat, es wäre ein Sieg über den weltweiten Populismus, siehe Trump, siehe Bolsonaro. Nur dass die Türkei das populistische Gift schon ein bisschen länger konsumiert hat: Erdoğan war fünfmal so lange im Amt wie Donald Trump. Seine Abwahl wäre ein Signal, dass die starken Männer zu schlagen sind. Oder die Männer, die sich selbst so stark finden.

Erdoğans Abwahl wäre ein Epochenwechsel für das Verhältnis zwischen Europa und Nahost

Die Türkei liegt nicht in Südamerika, sondern an einem neuralgischen Punkt auf der Weltkarte. Sie liegt, das ist ihr Schicksal, zwischen Ost und West. Sie ist ein muslimisches Land. In den frühen Erdoğan-Jahren hatten viele die Hoffnung, dass die Türkei den Islam und die Demokratie zusammenbringen kann, spätestens nach den Gezi-Protesten im Sommer 2013 war es damit vorbei. In den Nachbarländern war da bereits der Arabische Frühling gescheitert, im Westen setzte sich der Eindruck fest: Demokratie im Orient, das wird nichts mehr. Und jetzt? Hält die muslimische Türkei freie Wahlen ab und schickt ihren Präsidenten möglicherweise in den Ruhestand.

Erdoğans Ende wäre nicht nur für die Türkei und die Region eine Chance - für all die im Nahen Osten, die davon träumen, sich auch mal ihre Regierung aussuchen zu dürfen. Es wäre ein Epochenwechsel fürs Verhältnis zwischen EU und Türkei, zwischen Europa und Nahost. Im besten Fall ein Neuanfang.

Kemal Kılıçdaroğlu, der Herausforderer, betont, wie klar er sein Land in der Nato sieht, also im Westen. Er wird aber, anders als der späte Erdoğan, vom Westen auch etwas erwarten. Eine Antwort. Nicht nur auf die Frage, ob türkische Bürger in Zukunft ohne Visum in die EU einreisen dürfen, genau das hat Kılıçdaroğlu seinen Wählerinnen und Wählern versprochen. Eine Antwort auch darauf: Wie steht Europa eigentlich zur Türkei? Möchte man überhaupt noch, dass sie eine europäische Perspektive hat? Ein Neuanfang, das könnte es werden. Der Konjunktiv in dem Satz liegt nicht nur am offenen Wahlausgang, er liegt auch an Europa.

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