Süddeutsche Zeitung

Türkei:Ganz schön dünnhäutig

Die türkische Sängerin Gülşen landet in Untersuchungshaft - wegen eines schlechten Scherzes.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

Gülşen ist in der Türkei populär, die Pop-Queen füllt die Hallen. Wegen ihrer knappen Bühnen-Outfits und ihres Einsatzes für LGBT-Rechte ist die 46-jährige Sängerin den islamisch-konservativen Kräften hingegen ein Dorn im Auge, bei ihren Auftritten hält sie gern die Regenbogenflagge in die Kamera. Doch jetzt hat Gülşen Bayraktar Çolakoğlu laut über die religiösen Schulen gelästert, der Staatspräsident war auf solch einer İmam-Hatip-Schule. Gülşen landete in U-Haft.

Bei dem Konzert Ende April hatte der Popstar auf der Bühne über die religiös ausgerichteten Schulen einen eher geschmacklosen Scherz gemacht. Sie wandte sich an einen Show-Kollegen mit dem Spitznamen "Imam" und sagte, dessen "Perversität" sei auf seine Zeit an der İmam-Hatip-Schule zurückzuführen. Beim Publikum gab es Applaus, die Berichte über sexualisierte Gewalt in islamischen Orden häufen sich. Doch aus den staatlichen İmam-Hatip-Schulen gibt es diese Berichte bisher so nicht. Ein Video des Auftritts ging Wochen später viral. Die islamisch-konservative AKP-Partei von Präsident Recep Tayyip Erdoğan empörte sich: ein "Hassverbrechen" und eine "Schande für die Menschheit". Der Hashtag "Verhaftet Gülşen" schlug entsprechend krachend ein.

So wie die Musikerin Gülşen nicht irgendein Popstar ist, sind die İmam-Hatip-Schulen nicht irgendwelche Schulen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist stolz auf seine Zeit dort. Dass er ein so überzeugender Redner ist, wird auf die Ausbildung als Koran-Rezitator zurückgeführt: An den İmam-Hatip-Schulen wird der Islam studiert, wird volksnahes Predigen gelehrt.

Offiziell sind die "İmam Hatip Liseleri" Berufsfachgymnasien für Jungen und Mädchen. Absolventen können eine Ausbildung zum Vorbeter an einer Moschee antreten, Theologie studieren. Zugleich sind die Schulen Teil des politischen Projektes Erdoğans, die Republik zu reislamisieren: Er will die laizistische Prägung des Atatürk-Staates umkehren. Deshalb befördert er den Ausbau der Schulen, viele Mitglieder des Parteiapparats sind Absolventen. Die Schulen sind aber nicht nur bei Religiösen beliebt. Sie bieten Kindern ärmerer Familien Zugang zu Bildung, islamisch eingefärbt.

Gülşen selbst hat begriffen, dass sie eine rote Linie überschritten hat. Vor ihrer Festnahme meldete sie sich in den sozialen Medien: "Es tut mir leid, dass meine Worte böswilligen Menschen, die unser Land spalten wollen, Nahrung gibt." Sie sagte aber auch, dass das Video erst jetzt, Monate nach dem Konzert, aufgetaucht sei, zeige, dass bestimmte Kräfte "provozieren" wollten. Sie spielte auf die Spaltung der Gesellschaft in Religiöse und Säkulare an, auf die immer stärkere Polarisierung in der Türkei.

Ob das reicht, um ein Strafverfahren anzuwenden? Der İmam-Hatip-Verein erklärte bereits, der Popstar habe die fast zehn Millionen Abgänger und Schüler beleidigt. Gülşen zündele an den "Bruchlinien der Gesellschaft". Die Musikerin Aynur Aydın hingegen twitterte: "Gülşen wurde verhaftet, weil sie sich nicht so kleidete und verhielt, wie sie es wollen. Wenn wir schweigen, werden wir die Nächsten sein, Freunde!"

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