Süddeutsche Zeitung

TTIP:Bedrängt und bedroht

Frankreich ist vor der Präsidentschaftswahl von Angst getrieben. Für Freihandel und selbstbewusste Verhandlungen ist da keine Kraft mehr. Die Brüsseler Verhandler nehmen ihnen die Sorgen nicht.

Von Christian Wernicke

Na typisch, wieder die Franzosen. Ausgerechnet Paris stoppt TTIP, dieses inzwischen vermaledeite Handels- und Investitionsabkommen mit den USA, das Standards für die ganze Welt setzen wollte. Das Veto aus Paris, es bestätigt das deutsche Vorurteil über den Nachbarn. Etwa so: In der Heimat des Jean-Baptiste Colbert, des Erfinders des Merkantilismus, habe man eh nie den Segen des freien Handels und einer staatsfernen Wirtschaft begriffen; schon früher habe die selbstgefällige Kulturnation ganz Europa genervt mit ihren ständigen Forderungen nach Sonderregeln für Käse, Schampus oder ihre unbegreiflichen Schwarz-Weiß-Filme.

Désolé, stimmt nicht. Nicht diesmal. François Hollande reklamiert keineswegs irgendeine französische Einmaligkeit, den berüchtigten Exzeptionalismus, für seine Entscheidung, die Verhandlungen abzubrechen. Der Präsident sucht keine Glorie. Ihn treiben Angst und Sorge.

Zuerst die Sorge. Hollande ist ein europäischer Sozialdemokrat. Als solcher verspricht er regelmäßig, was früher schon ein Tony Blair oder Gerhard Schröder verkündeten: dass die EU nicht nur eine Frage von Krieg und Frieden sei, sondern auch dazu diene, die "Globalisierung zu gestalten" und auf diese Weise die Bürger vor kapitalistischen Auswüchsen zu schützen. Nur leider, den Menschen erscheint "Brüssel" mehr denn je als ein Agent einer Liberalisierung, die (so die flinke Formel) die Reichen reicher und die Armen ärmer macht. TTIP ist dafür Symbol und Menetekel.

Frankreich treibt der Angstreflex, also fällt auch der Freihandel

Hollande aber, der rosarote Europäer, will nächstes Jahr wiedergewählt werden. Also zieht er, um seine Linke zu retten, die Reißleine. Das fällt ihm umso leichter, da nebenan - beim Export-Vize-Weltmeister Deutschland - der sozialdemokratische Vizekanzler TTIP ja ebenfalls abschreibt.

Und die Angst? Die gärt zwischen Calais und Cannes überall, und vor allem rechts. Die Nation fühlt sich bedrängt und bedroht, von der Gewalt der Terroristen wie vom Elend der Flüchtlinge, von EU-Direktiven wie von den Zwängen des Weltmarkts. Und ja, auch von Burkinis. Man fühlt sich "entgrenzt", schutzlos, von unsichtbarer Hand fremdbestimmt. Ökonomisch, aber auch kulturell.

Nicht nur die extreme Linke wettert in Frankreich gegen Brüssel - es ist vor allem Marine Le Pen, die Vorsitzende des rechtspopulistischen Front National, die per nationalem Protektionismus Schutz verheißt (nur für Franzosen natürlich). Das funktioniert in einem Klima, in dem nur noch ein Drittel der Wähler glaubt, Europas Wirtschaftsintegration nütze dem eigenen Land. Und das greift in einer Gesellschaft, in der drei von vier Bürger sagen, die Nation habe im vergangenen Jahrzehnt an Macht und Einfluss in der Welt verloren.

Hollande weiß, dass TTIP mehr Wachstum und Jobs verheißt; oder dass, wenn Amerika und Europa sich nicht verständigen, andere die Regeln der Weltwirtschaft schreiben. Die Chinesen etwa. Aber das ist abstrakt. Konkret ist Hollande wie Europa - zu geschwächt, um mit den USA härter zu verhandeln. Oder um TTIP zu erklären.

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Quelle:
SZ vom 31.08.2016
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