Süddeutsche Zeitung

Tschechische EU-Ratspräsidentschaft endet:Plötzlich proeuropäisch

Visa-Verbot für Russen, gemeinsame Ukraine-Hilfe: Die Tschechen sind zufrieden mit dem, was sie in Brüssel erreicht haben. Dennoch ist nicht klar, wo die Regierung etwa in Bezug auf Rechtsstaatsstreitigkeiten steht.

Von Viktoria Großmann

Einen viel schlechteren Zeitpunkt, eine EU-Ratspräsidentschaft zu übernehmen, hätte man sich kaum vorstellen können. Ein neuer Krieg in Europa, die Regierung erst ein halbes Jahr im Amt, und der Vorgänger hatte in Brüssel nicht nur ein schlechtes Image hinterlassen, sondern auch weder viele Gedanken noch Geld an die Vorbereitung der sechs Monate verschwendet. Zur Auftaktveranstaltung am 1. Juli im romantischen Schloss von Litomyšl regnete es - zum Glück hatte jemand an Schirme mit dem kunterbunten Logo der tschechischen Ratspräsidentschaft gedacht.

"Sehr erfolgreich" sei Tschechiens zweite Ratspräsidentschaft verlaufen, versicherte nun Jan Lipavský, der tschechische Außenminister, dem tschechischen Rundfunk. Das Verbot kurzfristiger Schengen-Visa für viele Russen, die gemeinsame humanitäre Hilfe für die von Russland überfallene Ukraine und Ausbildungsmissionen für ukrainische Soldaten: "Das alles hat unsere tschechische Ratspräsidentschaft gebracht", fasste der Minister zusammen.

In dieser Woche finden nun in Brüssel die letzten Zusammenkünfte unter tschechischer Ratspräsidentschaft in der EU statt. Am 1. Januar übernimmt Schweden. In Tschechien zieht man nun nicht nur Bilanz der Ratspräsidentschaft, sondern auch des ersten Jahres der Fünferkoalition, die Premier Petr Fiala in Prag führt. Seine Partei, die ODS, ist konservativ, die anderen sind christlich geprägt oder liberal, und die Piratenpartei neigt nach links. Auch Außenminister Lipavský ist Pirat.

Gemeinsam waren die Parteien gegen den Oligarchen Andrej Babiš angetreten, der in Brüssel Probleme wegen seiner Beteiligungen an Firmen hatte, die von EU-Subventionen profitieren. Das erklärte Ziel vor der Wahl: eine Regierung, für die man sich nicht schämen muss. So lautete auch ein Slogan. Ein anderer: Tschechien gehört zum Westen. Beides scheint das Land mit seinem Ratsvorsitz bestätigt zu haben.

"Tschechien hat gezeigt, wie professionell es arbeiten und auftreten kann", sagt Jakub Eberle, Forschungsdirektor am Institut für Internationale Beziehungen in Prag. "Das lief alles sehr gut." Als gemeinsames Erfolgsprojekt habe die Ratspräsidentschaft auch die Regierung gestärkt. Das Land habe seinen Ruf verbessert, findet Eberles Kollege, der Schwede Mats Braun, Professor an der Metropoluniversität Prag: "Tschechien hat gezeigt, dass es Initiativen anstoßen, proaktiv handeln kann." Es habe sich damit von dem Ruf gelöst, welcher der Visegrád-Gruppe anhaftet, dem "Neinsager-Club", der in Brüssel blockiert und verhindert.

Keine Probleme mit Brüssel, auch kein Regierungschaos

Innerhalb der Visegrád-Gruppe mit Polen, Ungarn und der Slowakei steht Tschechien nun am besten da, kein Konflikt mit der EU-Kommission und auch kein Regierungschaos wie gerade in der Slowakei.

Außenminister Lipavský scheint für sein Land eine klare Position gefunden zu haben: "Unsere Rolle ist die, dass wir die Interessen Mittel- und Osteuropas den westeuropäischen Partnern sehr konstruktiv erläutern", sagte Lipavský in dem Radio-Interview - eine Rolle, in der er sich wohl auch über den Ratsvorsitz hinaus sieht. Europaminister Mikuláš Bek wiederum hat recht konsequent sein Anliegen der EU-Erweiterung und der dafür erforderlichen Reformen vorangetrieben und freut sich in Interviews, dass man Europa habe "angenehm überraschen" können.

Jedoch war weder vom Thema Flüchtlinge noch vom Thema erneuerbare Energien viel zu hören. Beides stand auch auf Tschechiens Prioritätenliste. Und beides sind heiße Eisen in Tschechien, das schon wieder vor einer Wahl steht: Im Januar wählen die Bürger einen neuen Präsidenten. Auch Ex-Premier Andrej Babiš kandidiert - ihm wollte wohl keiner ein kontroverses Thema präsentieren.

Politologe Mats Braun sieht jedenfalls eine Chance, dass Tschechien auch nach der EU-Ratspräsidentschaft eine aktive Rolle in Brüssel spielen könnte. Die ganze Regierung sei konstruktiv und als "ehrlicher Vermittler aufgetreten". Bedenken hat er in Hinblick auf die Partei von Premier Fiala. Fiala versteht sich zwar als eindeutig proeuropäisch, führt aber eine Partei von EU-Skeptikern an. Das Konzept von mehr Integration, Föderalismus gar, hat auch Fiala immer abgelehnt. Noch dazu sitzt seine Bürgerdemokraten-Partei ODS im Europäischen Parlament in einer Fraktion mit der polnischen PiS, den neofaschistischen Fratelli d'Italia von Giorgia Meloni und den rechtsextremen Schwedendemokraten.

"Lipavský steht für eine wertebasierte Rhetorik", sagt Politikwissenschaftler Eberle. "Fiala für Kompromisse." Es sei nicht klar, wo Tschechien im Streit um die Rechtsstaatlichkeit zwischen Polen und der EU-Kommission stehe. "Jedenfalls nicht in der ersten Reihe der Kritiker." Und mit seiner ODS im Europäischen Parlament in die Fraktion der EVP eintreten, neben die CDU/CSU, das wolle Fiala wohl schon allein deshalb nicht, weil es Aufsehen erregen und in der Partei Unruhe stiften würde. "In Tschechien gewinnt er damit nichts."

Das Vertrauen in die EU wächst

Dennoch ist die Zustimmung zur EU in Tschechien zuletzt gewachsen, das zeigen die Daten aus dem Eurobarometer, der regelmäßigen Befragung der EU-Bürger. Pandemie und Krieg haben anscheinend dazu geführt, den EU-Institutionen mehr zu vertrauen, größeren Wert auf Zusammenhalt zu legen. So ist mit 80 Prozent die Befürwortung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik in Tschechien sogar höher als im EU-Durchschnitt - allerdings fühlen sich die Tschechen vom russischen Angriffskrieg in der Ukraine auch überdurchschnittlich betroffen.

Selbst wenn Tschechien nun eine aktivere Rolle in Europa anstrebte - es muss auch jemand zuhören. Das Interesse sei aber gerade beim großen Nachbarn Deutschland selbst durch den Ratsvorsitz nicht besonders gewachsen, beobachtet Zuzana Lizcová, Professorin für Internationale Beziehungen an der Karls-Universität. Tschechien gelte seit Jahrzehnten als unauffälliger, unproblematischer Nachbar und bekomme vielleicht gerade deshalb weniger Aufmerksamkeit. "Dabei sollte man doch in das Verhältnis investieren, das gut funktioniert."

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