Süddeutsche Zeitung

Europäische Union:Prag als Mittler zwischen Ost und West

Tschechien übernimmt die EU-Ratspräsidentschaft. Gerade im richtigen Moment. Denn das Land steht für die EU-Erweiterung und will Reformen anstoßen.

Von Viktoria Großmann

Als Europäer braucht man einen langen Atem, als Osteuropäer sowieso. Einige warten schließlich seit Jahrzehnten auf den EU-Beitritt. Diejenigen, die schon drin sind, quälen sich mit schwerfälligen Mehrheitsfindungen oder warten auf den nächsten EU-Ratsvorsitz. Bei 27 Ländern dauert es eben, bis jeder mal für ein halbes Jahr an der Reihe ist. Somit hat Tschechien, das nun von Frankreich die Ratspräsidentschaft übernimmt, die Art der Staffelübergabe gut gewählt.

An diesem Samstag wird im Dreilindenstadion im Brüsseler Stadtteil Watermael-Boitsfort Tschechien bei einem Freundschaftslauf den Franzosen den Vorsitz abnehmen. 1954 hatte die tschechische Sportlegende Emil Zátopek dort einen Weltrekord aufgestellt und dem französischem Olympiasieger Alain Mimoun den Rang abgelaufen.

Noch 2009 gab der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy den Vorsitz ungern an das erst fünf Jahre zuvor der EU beigetretene Tschechien ab. Er wollte die junge Demokratie lieber auslassen, bis dann, wie auch dieses Mal, Schweden dran wäre. Die Zeiten waren schon damals unruhig: Lehman Brothers war gerade pleitegegangen und Russland wollte Teile Georgiens annektieren.

Tschechien aber übernahm. Stürzte tatsächlich unterwegs in ein innenpolitisches Regierungschaos. Begründete aber auch die östliche Partnerschaft - somit trat die EU mit Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldau, der Ukraine und Belarus in den offiziellen Dialog. Belarus wurde allerdings mittlerweile aus der Gruppe ausgeschlossen.

Die Umstände seien "äußerst günstig", sagt Europaminister Bek

Die Umstände für die zweite tschechische Ratspräsidentschaft in der EU nennt der tschechische Europaminister Mikuláš Bek diesmal "äußerst günstig". Zum einen gebe es da die neue aus fünf Fraktionen bestehende Regierung, die seit einem halben Jahr im Amt ist. In einem gemeinsamen Wahlkampf hatte sie die Regierung des Populisten Andrej Babiš vergangenen Oktober aus dem Amt gedrängt. "Unsere neue Regierung ist deutlich proeuropäischer als die vorhergehende", sagt Bek, Musikwissenschaftler und zugleich guter Kenner Deutschlands und der deutschen Sprache. Außerdem hat die Regierung unter Premier Petr Fiala, anders als die Babiš-Regierung, keine Schwierigkeiten mit Brüssel.

Tatsächlich ist Tschechien mit seinen knapp elf Millionen Einwohnern derzeit das einzige größere Land Mittelost- und Südosteuropas, das überhaupt Verlässlichkeit bieten kann - und somit als Mittler zwischen Ost und West geeignet ist. Das ist im Sinne des ehemaligen Präsidenten Václav Havel, von dessen zweiter Aachener Rede 1996 man sich das Motto für den Ratsvorsitz geborgt hat: Europa als Aufgabe.

Eine Aufgabe, die angesichts des russischen Angriffskrieges in der Ukraine schwieriger erscheint denn je. Den Krieg nehmen viele Tschechen deutlich persönlicher als etwa Deutsche oder Franzosen. Bek genauso wie der tschechische Außenminister Jan Lipavský lassen im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung keinen Zweifel daran, dass sie die Grenze des ehemaligen Bruderlandes Slowakei zur Ukraine noch immer wie die eigene Landesgrenze empfinden. Zudem umfasste die Tschechoslowakei zwischen den Weltkriegen auch kleine Teile der Ukraine, inklusive der Stadt Uschhorod.

Auch deshalb setzte sich Tschechien, anders als zunächst Frankreich, deutlich dafür ein, dass die Ukraine EU-Beitrittskandidat werden müsse. Auch der Beitritt der südosteuropäischen Länder ist für Tschechien ein wichtiges Anliegen. Bek ist bewusst, was eine Erweiterung der EU ebenfalls bedeutet: Reformen. So lässt sich das jetzt schon oft hinderliche Prinzip der Einstimmigkeit bei vielen EU-Entscheidungen mit noch mehr Mitgliedern bald gar nicht mehr durchhalten. Doch der Weg dorthin ist weit und eine Ratspräsidentschaft kurz.

Wie genau soll überhaupt diese Aufgabe Europa aussehen? Europaminister Bek gibt mit seiner Antwort zugleich eine Beschreibung der Arbeit während so einer Ratspräsidentschaft. "Wir werden nicht genau das Ziel definieren, sondern die Debatte, die zur Definition führt, moderieren", sagt er bescheiden. Oder auch pragmatisch. Denn mehr kann so ein halbjähriger Vorsitz wohl kaum bringen. Man werde in dieser Zeit auch nicht mal eben die Vereinbarungen ändern. "Wir möchten etwas Substanzielles tun, aber es muss im Rahmen der Verträge sein."

Der Krieg in der Ukraine habe aber, sagt Bek, die Politik in Tschechien wie auch in Europa "eigentlich vereinfacht". Vor dem Krieg hätten sich die Debatten um die Themen Digitalisierung und Klimaschutz gedreht. Nun sei ein drittes hinzukommen, die Sicherheit. Das wiederum erleichtere Debatten über den grünen Wandel: "Auch konservative Politiker hier in Tschechien sind jetzt bereit, neue Energiequellen zu akzeptieren, einfach weil sie Unabhängigkeit von Russland bringen", erklärt Bek. Ähnliches lasse sich überall in Europa beobachten.

Was Europa jetzt benötigt, das braucht nach Jahren des Reformstaus unter Babiš und dessen instabilen Vorgängerregierungen auch Tschechien. Bek fasst es in den englischen Wörtern rethink, rebuild, repower zusammen. Soweit immerhin möchte der Europaminister die Aufgaben Europas benennen. Neu denken, neu aufbauen, neue Energie schöpfen. Letzteres auch im Wortsinne. Denn für die Energieversorgung Europas brauche es nicht nur neues Denken, sondern auch neue gemeinsame Institutionen.

Gefeiert wird die Eröffnung der Ratspräsidentschaft an diesem Wochenende in italienischer Renaissance-Pracht im Schloss des Städtchens Litomyšl im Osten Böhmens. Europäischen Geist atmet das alte Gemäuer seit Jahrhunderten - nun ist es an den Tschechen, frischen Wind hereinzubringen.

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