Süddeutsche Zeitung

Tschechien:Einfallslosigkeit mit Folgen

Rekord bei den Corona-Neuinfektionen: Die Regierung von Premier Babiš steht mit Blick auf die Parlamentswahlen im nächsten Jahr unter Druck.

Von Viktoria Großmann

Das Virus hat einen weichen Kern aus Pistaziencreme und Himbeeren. Covidník heißt das kugelrunde Gebäck, das im Prager Traditionscafé Schwarze Madonna nun angeboten wird. Genuss oder schon pure Verzweiflung? Die Infektionszahlen steigen ungebremst, der wirtschaftliche Einbruch gerade in Gastronomie und Tourismus ist enorm, und die Regierung handelt bei all dem merkwürdig unentschlossen. Nun wurde sie durch die Kreiswahlen am Wochenende in eine Krise gestürzt. Würden die Parlamentswahlen nächstes Jahr genauso ausgehen, dann müsste Premier Andrej Babiš um seinen Posten bangen. Nicht, weil seine Partei Ano verloren hat - sondern weil die anderen viel gewonnen haben. Und weil der sozialdemokratische Koalitionspartner ČSSD völlig abgestürzt ist. Babiš müsste sich neue Partner suchen.

Tschechien befindet sich in einem Ausnahmezustand und bereits zum zweiten Mal seit März im nationalen Notstand. Die Regierung kann also Maßnahmen auch ohne das Parlament beschließen. Bei der Zahl der Neuinfektionen gemessen an der Einwohnerzahl hat Tschechien zwischenzeitlich Spanien überholt: 5335 Fälle wurden zuletzt innerhalb von 24 Stunden gemeldet, in Prag zählt man 277 Infizierte auf 100 000 Einwohner, im südöstlichen Uherské Hradiště sind es 412. Und während man im Kaffeehaus zumindest eine Idee entwickelt, um den wirtschaftlichen Folgen zu begegnen, bleibt eine echte Strategie der Regierung weiter aus, obwohl die Opposition auch den Sommer über nicht müde wurde, eine Vorbereitung auf eine zweite Welle zu fordern. Kürzlich wurde in Tschechien ein Kurzarbeitsgesetz nach deutschem Vorbild beschlossen, immerhin. Die Debatten dazu liefen seit März, die Opposition fordert schon Nachbesserung.

Am Donnerstag verkündete Gesundheitsminister Roman Prymula neue Maßnahmen: Kinos, Theater, Turnhallen müssen schließen. "Ich muss mich dafür entschuldigen", begann er die Pressekonferenz. Einen neuen Lockdown wolle er vermeiden. Prymula hatte das Land als oberster Epidemiologe durch den Beginn der Pandemie gebracht - im September wurde er neuer Gesundheitsminister. Der bisherige, ein treuer Gefolgsmann von Babiš, wurde abberufen. Ein reiner PR-Coup, kritisierte die oppositionelle Piratenpartei. Sie wirft Babiš vor, er habe mit dem Wechsel des Gesundheitsministers von seinem eigenen Versagen ablenken wollen. Zudem sei der Rücktritt medienwirksam an dem Tag erfolgt, an dem in Brünn ein Korruptionsprozess gegen hochrangige Vertreter der Partei Ano eröffnet wurde.

Ein 27-Jähriger will gezielt Rentner ansprechen - und Babiš bei den Wahlen 2021 besiegen

Im mährischen Brünn, der zweitgrößten Stadt Tschechiens, hat die Ano vorerst ausgedient. Wie im Rathaus werden sich vermutlich auch im zugehörigen Kreis die Oppositionsparteien zu einer Koalition zusammenschließen und die Ano verdrängen. Zu einer der stärksten Oppositionsparteien hat sich innerhalb weniger Jahre die Piratenpartei entwickelt. Sie steht für absolute Transparenz, konsequente Korruptionsbekämpfung - gerade auf lokaler Ebene - sowie eine effizientere und kostengünstigere Verwaltung. Die Piraten waren es, die gemeinsam mit Transparency International die Untersuchungen gegen Premier Babiš zu dessen Interessenkonflikt in Gang brachten. Laut bisherigem EU-Bericht übt der Premier noch immer entscheidenden Einfluss auf seine Firmen aus - und dürfte damit keine Subventionen erhalten. Babiš wirft der EU Unfähigkeit vor.

Trotz aller Kritik in den Medien hat seine Ano erneut bei den Kreiswahlen die besten Ergebnisse erhalten. Sie gewann in zehn von dreizehn Kreisen. Vielleicht lag es am Wahlgeschenk von 5000 Kronen, etwa 190 Euro, die einmalig an Rentner ausgezahlt wurden. Dabei, kritisierten die Piraten, hätten doch die Rentner am wenigsten wirtschaftlich unter der Krise gelitten.

Damit ist die Ano nun einerseits gestärkt. Die Regierung insgesamt jedoch ist geschwächt. Denn der kleine, sozialdemokratische Koalitionspartner ČSSD ist nach dieser Wahl nahezu aus der politischen Landschaft verschwunden, ebenso die kommunistische KSČM, welche die Minderheitsregierung duldet. Nun steht, teils an infektionssicheren Drive-in-Stationen, die zweite Runde der Senatswahlen an - dort ist die Opposition bereits deutlich in der Mehrheit und kann diese noch ausbauen.

Sowohl die liberale Mitte mit den Piraten wie auch die konservativen Parteien um die ODS schließen sich zu neuen Bündnissen zusammen und haben damit erste, lokale Erfolge. Nun betritt ein weiterer Akteur die Bühne: Mikuláš Minář, Gründer der Organisation Eine Million Augenblicke, die im vergangenen Jahr Hunderttausende gegen die Regierung auf die Straße brachte, kündigt an, eine politische Bewegung zu gründen. Der 27-Jährige will gezielt auch Rentner ansprechen - und Babiš bei den Parlamentswahlen 2021 besiegen.

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SZ vom 09.10.2020
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