Kaum zu glauben, aber es gibt tatsächlich Dinge, die in Michael Žantovskýs Biografie über Václav Havel nicht vorkommen. Etwa die Geschichte mit den Orden und Ehrenpreisen. Der legendäre Widerständler gegen das totalitäre System des tschechoslowakischen Kommunismus und spätere Präsident des demokratisierten Landes nahm Orden und Auszeichnungen eigentlich gern entgegen. Dennoch mündete seine aberwitzige Popularität in eine Abwehrschlacht gegen das Vielzuviel der Ehre.
Wer immer Anfang der Neunzigerjahre eine Ehrung zu vergeben hatte, den drängte es, sie dem großen Tschechen anzuhängen. Es schien gar so zu sein, dass Auszeichnungen und Medaillen eigens nur für Havel erfunden wurden, um so für die verleihenden Institutionen etwas Abglanz vom goldenen Ruhm dieser Lichtgestalt erhaschen zu können. So hat es ein hohes Maß an Energie, Witz und List verlangt, den größeren Wust allzu billiger Verehrung so zurückzuweisen, dass sich die Spender nicht allzu brüskiert vorkamen.
Detailreich zeichnet Žantovský den Lebenslauf - oder besser - die Entwicklung von Gedanken, Empfinden und Reaktionsweise des Schriftstellers, Moralisten und Präsidenten Václav Havel nach. Die Fülle des Erzählten - was Havel alles tat, was er dachte, wie das einzuordnen ist - macht manchmal atemlos, ohne aber den Wissensdurst der geneigten Leserschaft zu strangulieren. Mittels dieser Fülle gelingt es dem Schreiber, Havel Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; nämlich trotz der Sympathie, ja, der Verehrung für den Mann, der für die demokratische Entwicklung der tschechischen Nachwendegesellschaft prägend und unentbehrlich war. Žantovský lässt ausreichend Distanz walten.
So ersteht in Detail und Genauigkeit auch bei unerfreulicheren, durchaus irritierenden Aspekten dieses turbulenten Lebenslaufes ein ziemlich wahrhaftiges Bild.
Havels Bewunderer sind von dem Buch enttäuscht: So genau hatten sie es nicht wissen wollen
Žantovský hat in seiner Havel-Biografie also hagiografischer Hudelei und damit der grassierenden Sehnsucht widerstanden, eine Idealgestalt beschrieben zu bekommen. Entsprechend sind einige Reaktionen auf dieses Buch ziemlich irritiert ausgefallen. Daraus spricht der Verdruss liebender Havel-Enthusiasten: So viele Schattierungen und Unzulänglichkeiten hatten sie um Himmels willen nicht erfahren wollen. Wieso sich die eigenen schönen Vorurteile durch die Realität zerdeppern lassen?
Am oft hagiografischen Furor, an der unkritischen Mythologisierung Havels als Person und Politiker liegt es auch, dass Žantovský mit seiner Biografie in ein Vakuum vorstößt. Außer der seinen gibt es bislang auf Deutsch keine verlässliche, einigermaßen umfassende und um Objektivität bemühte Darstellung; dies angesichts einer Person, die wohl in kaum einem anderen Land so populär war, so verehrt wurde, ja zumal für deutsche Idealisten scheinbar Unerreichbares zu verwirklichen schien: die Versöhnung von Moral und Macht, Poesie und Politik, Geist und Gesetz in einer Person.
Das kurzweilige Konvolut über den Dichter-Präsidenten wurde zunächst auf Englisch verfasst. Nur auf Tschechisch liegt eine durchaus umstrittene Biografie des renommierten Prager Journalisten Daniel Kaiser vor, die Havel ziemlich kritisch betrachtet. Žantovský lässt oft durchblicken, dass er den Interpretationen Kaisers misstraut, erklärt sie manches Mal für falsch, zitiert gleichwohl den Kollegen mit großer Ausführlichkeit. Überhaupt ist der Anmerkungsteil des vorliegenden Bandes ein Kapitel für sich: Es reißt parallel zum eigentlichen Erzählstrang bemerkenswerte Seitengeschichten an, verweist auf abweichende Überlieferung, Legende oder Deutung.
Žantovskýs Text wimmelt von Anekdotischem, von Schnurren und Geschichten aus diesem so verwickelten und kurzweiligen, so grandiosen und ernüchternden Leben. Der Autor, der einige Zeit als erster offizieller Sprecher des tschechoslowakischen Staatsoberhauptes Havel am Verherrlichungswerk seines Meisters mitgewoben hat, versagt sich trotz aller Verehrung keineswegs, ausführlich auf Unzulänglichkeiten des Beschriebenen - etwa sein vertracktes, fallweise asoziales Verhältnis zu Frauen - einzugehen. Mit gewisser Ironie gelingt es ihm auch, die Rolle wahrhaft heroischer Gestalten in Havels Umgebung, namentlich von dessen erster Frau Olga, zu charakterisieren.
Im Bemühen, bedeutsame Gestalten am Wege und im nächsten Kreis zu würdigen, greift Žantovský manchmal aber zu kurz. Als Beispiel sei Václav Malý genannt, ein oppositioneller Priester und Mitunterzeichner der Charta '77, dem er einen einzigen, wenn auch gebenedeiten Satz gönnt, dessen Rolle als Moderator der Massen in der Samtenen Revolution - heute ist er Weihbischof der Erzdiözese Prag - so aber keine Kontur bekommt: Malýs charismatische Regie bewirkte wesentlich die völlige Gewaltlosigkeit des Umsturzes.
Dass Havel dem Parlamentarismus eher misstraut hat und mehr auf - wenn auch demokratisch legitimierte - Personalautorität setzte, mag Žantovský nicht di-rekt benennen, verschweigt es aber auch nicht. Havels bestürzende Schwäche in den Zeiten nach Unterzeichnung der Charta im Jahr 1977 wird in nobler Weise ohne denunziatorische Töne gewürdigt. Allerdings neigt Žantovský dazu, die Gedanken und Empfindungen des Schriftstellers und Philosophen im Duktus unverfrorener Selbstgewissheit zu interpretieren, als sei er selbst Havels Alter Ego gewesen.
Gleichwohl dürften seine Deutungen dem Kern der Sache oft sehr nahe kommen, als offizieller Sprecher des Präsidenten hat er lange mit Havel engen Kontakt gehabt. (Dass Michael Žantovský in seiner Sprecher-Rolle eine der kritikwürdigsten Ungestalten der Prager Präsidentschaftskanzlei gewesen ist - als SZ-Korrespondent durfte der Autor ihn in dieser Rolle ausführlich beobachten -, macht den hohen Differenzierungswillen dieses Buches umso überraschender.)
In der Deutung biografischer Gegebenheiten als Quell politischer Dynamik, als Triebfeder konkreten staatsmännischen Handelns bleibt diese insgesamt famose Biografie manchmal unvollständig. Dennoch gibt sie einen brauchbaren Abriss der politischen Abläufe in Mitteleuropa in und nach der Samtenen Revolution, wahre Deutungsmacht politischer Prozesse entfaltet sie indes nicht. So unterschätzt Žantovský völlig - das ist das markanteste Beispiel -, wie zentral für Havels geopolitisches Verständnis das Thema der Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei nach den Nazi-Gräueln gewesen ist. Das Gewicht, das der Präsident dieser vertrackten Nachbarschaft zumaß, kleidete dieser einmal selbst in die Formel: Die Deutschen seien für die Tschechen Qual und Hoffnung zugleich.
Havel ging sogar so weit, die Vertreibung als verhängnisvollen Ur-Infekt für die tschechoslowakische Gesellschaft zu interpretieren. Durch kollektive Rache habe sich das allgemeine Rechtsempfinden so verbildet und geschwächt, dass keine Kraft mehr geblieben sei, dem Totalitarismus des kommunistischen Systems zu widerstehen. Žantovskýs Fehleinschätzung hat wohl mit seiner leidenschaftlichen Vorliebe für den angloamerikanischen Raum zu tun, die ihn auch als Botschafter in die USA führte und bis heute prägend für seine weiteres Wirken blieb.
Des Morgens fragte der Präsident Havel sarkastisch: "Hat es heute Nacht einen Putsch gegeben?"
Dennoch lässt sich derzeit hierorts Gültigeres und zugleich auch Amüsanteres über Václav Havel nicht finden. Man sollte sich von Volumen und Präsentation des Buches nicht abschrecken lassen. So kolossal der Untertitel "In der Wahrheit leben", so unglücklich ist das beinahe versteinerte Umschlagsfoto des gealterten Staatspräsidenten, das der Verlag dem deutschen Leser aufs Gemüt plumpsen lässt.
Der für diese multiple Persönlichkeit weit treffendere Umschlag der tschechischen Ausgabe lässt erkennen, was Fotografie zu erzählen vermag. Nur dieser tschechische, nicht der deutsche Havel wäre befähigt, die prekäre Lage der ersten Präsidententage mit der sarkastischen morgendlichen Frage zu kommentieren: "Hat es heute Nacht einen Putsch gegeben?" Žantovský deutet das schlüssig so, Havel sei eigentlich nie Politiker sondern immer ein Theatermacher gewesen, ein pedantischer und zugleich lebenslustiger Anti-Schwejk, dessen immense Lebensleistung ihn allerdings auch in Versuchung führte, sich für unentbehrlich zu halten.