Ziemlich exakt eine Woche dauert es, dann ist der vorläufige Höhepunkt der Erregungswelle erreicht. Mittwoch dieser Woche, eine Pressemitteilung der AfD, Betreffzeile: „Bundesregierung führt weiteren massiven Angriff auf die Meinungsfreiheit“. Von „Netzdenunzianten“, die jetzt am Werk seien, schreibt die AfD.
Eine Woche zuvor hatte der Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, ebenfalls per Pressemitteilung verkündet, seine Behörde habe Deutschlands ersten „Trusted Flagger“ ernannt, behördendeutsche Übersetzung: einen „vertrauenswürdigen Hinweisgeber“. Und zwar soll die Meldestelle „Respect“ künftig Hinweise auf Hass, Hetze und weitere Niederträchtigkeiten in sozialen Netzwerken geben. So sieht es das jüngst in Kraft getretene Großregelwerk der EU für Internetplattformen vor, der „Digital Services Act“ (DSA).
„Hass“ und „Fake News“ sind nicht per se strafbar
Weiter ließ sich Müller, der bis auf Weiteres auch der deutsche Koordinator für DSA-Belange ist, in der Mitteilung folgendermaßen zitieren: „Illegale Inhalte, Hass und Fake News können sehr schnell und ohne bürokratische Hürde entfernt werden.“ Das klingt sehr hemdsärmelig, finden Kritiker. „Zensur“ sei das, „autoritär“ und „verfassungswidrig“, um nur einige Vokabeln aus der daraufhin auf der Plattform X entfesselten Debatte zu zitieren, die unter anderem von Julian Reichelts Portal Nius vorangetrieben wird. Auch das FDP-Enfant-terrible Wolfgang Kubicki griff den Vorwurf auf, und schließlich landete er in der AfD-Mitteilung.
„Hass“ und „Fake News“, die Bundesnetzagenturchef Müller aufgeführt hatte, sind in Deutschland nicht per se strafbar. Strafbar sind in solcher Hinsicht einzelne Tatbestände wie Volksverhetzung, Beleidigung oder Verleumdung. Häme oder Lüge unterhalb dieser Schwellen dagegen mag man verwerflich finden, illegal ist das nicht automatisch. Soll da also eine privat organisierte, unter anderem von der grün geführten Landesregierung Baden-Württemberg geförderte Meldestelle unter Aufsicht einer Bundesagentur, deren Präsident noch dazu ein grünes Parteibuch führt, den Tugend- und Sittenwächter spielen?
Klaus Müller versuchte es in einer Replik auf X mit einer Beschwichtigung; er habe ja gar nicht allen „Hass“ und alle „Fake News“ mit den Dingen gemeint, die schnell und unbürokratisch gelöscht gehörten, sondern nur solche, die auch tatsächlich „illegal“ seien. Ob man das für eine semantisch schlüssige Beschwichtigung hält – der Rechtsgrundlage dürfte ein solches Vorgehen jedenfalls eher entsprechen.
85 Meldungen bearbeitet „Respect“ pro Tag
So versucht es auch Petra Densborn dieser Tage am Telefon zu erklären. Densborn ist Vorsitzende der Jugendstiftung Baden-Württemberg, die die Meldestelle „Respect“ 2017 gegründet hat. Sie schickt vorweg: Man melde weder Behörden noch Plattformen einfach nur irgendwelche unliebsamen Meinungen. Schon gar nicht durchforste man aktiv Instagram, X etc. nach Meldewürdigem, schon allein, weil die Fachleute von „Respect“ gar keine Zeit dafür hätten.
Densborn sagt, sie hätten täglich vier, fünf Leute im Dienst – Juristen, Sozial- und Religionspädagogen – und die seien komplett ausgelastet mit dem, was so schon bei ihnen landet. Im Schnitt 85 Meldungen pro Tag. Vor zwei Jahren, als die Meldestelle längst aktiv war, nur halt ohne offiziellen Auftrag als „Trusted Flagger“, waren es noch 27.
Der Weg sei folgender, erklärt Densborn: Wenn eine Nutzerin oder ein Nutzer einen Beitrag sieht, der zum Beispiel volksverhetzend sein könnte, kann sie oder er das „Respect“ melden. Kommen sie dort zu dem Schluss, dass das Geschriebene potenziell strafbar ist – was sie in knapp 40 Prozent der Fälle tun, der Rest ist laut der Meldestelle „rechtlich unbedenklich“ –, melden sie den Beitrag dem Bundeskriminalamt.
BKA und Staatsanwaltschaft prüfen
Das BKA und eine auf IT-Sachen spezialisierte Staatsanwaltschaft in Köln prüfen dann, ob wirklich ein Anfangsverdacht besteht, und erst wenn das so ist, wendet sich „Respect“ wiederum an die Plattformbetreiber, etwa X oder den Facebook- und Instagram-Mutterkonzern Meta. Diese müssen auf die Löschbitten zeitnah reagieren, das ist die Neuerung durch den DSA – also entweder löschen oder begründen, warum der Beitrag online bleiben könne. Für beide Fälle muss es neuerdings auch Beschwerdewege geben, falls ein Nutzer mit der Entscheidung nicht einverstanden ist. „In keinem Fall entscheiden wir selber, was gelöscht wird“, sagt Petra Densborn. „Wir sind keine Sanktionsstelle.“
Was allerdings durchaus passieren kann: dass die Plattformen im Zweifel lieber löschen als juristische Scherereien oder Bußgelder zu riskieren. Zumal beispielsweise Meta seine „Gemeinschaftsstandards“, in denen erlaubte und unerlaubte Inhalte definiert sind, wohl auch aus diesem Grund stellenweise schon schärfer fasst als nach deutschen Gesetzen nötig. Und eine gerichtliche Entscheidung darüber, ob ein Posting definitiv strafbar ist, wird in der Regel ebenfalls nicht abgewartet.
Auf X und hinter den politischen Kulissen versuchen jetzt vor allem die Grünen, die Debatte wieder einzufangen. Genauso sagt Reinhard Brandl, digitalpolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag: „Mich irritiert diese ganze Diskussion.“ Beim DSA gehe es darum, Straftaten zu verfolgen. Klaus Müller von der Bundesnetzagentur habe sich in seinem Statement also „irreführend“ geäußert.
Auch andere, selbst grüne Verteidiger der Meldestellen-Regel, sagen hinter vorgehaltener Hand, Müller hätte sich besser präziser ausgedrückt, also „Fake News“ und „Hass“ nicht pauschal als löschpflichtig bezeichnen sollen. Und dass Müller die Doppelrolle ausführt als Behördenchef, der an die Weisungen des Grünen-geführten Bundeswirtschaftsministeriums gebunden ist, und gleichzeitig nationaler Digitale-Dienste-Koordinator ist, der qua EU-Regel komplett unabhängig sein soll, halten auch Grüne für mindestens unglücklich. Und für so kompliziert, das verstehe „da draußen“ ja nun wirklich niemand.