Süddeutsche Zeitung

USA und Türkei:Eklat mit Vorgeschichte

Erdoğans diplomatische Eskalation ist ein neuer Tiefpunkt im zerrütteten Verhältnis zwischen Washington und Ankara. Bereits unter Donald Trump sorgte ein Rüstungsdeal für erhebliche Missstimmung.

Von Hubert Wetzel, Washington

Im Januar, kurz vor dem Amtsantritt von US-Präsident Joe Biden, veröffentlichte die führende Denkfabrik der Demokraten einen Bericht zu den "Streitpunkten im türkisch-amerikanischen Verhältnis". Das Papier des Center for American Progress beschrieb so viele Themen, bei denen Ankara und Washington über Kreuz lagen - von den Menschenrechten über die Rüstungspolitik bis zu den regionalen Konflikten -, dass man durchaus Zweifel bekommen konnte, ob da tatsächlich von zwei Nato-Verbündeten die Rede war oder von zwei verfeindeten Staaten.

Die aktuellen Verwerfungen entzündeten sich an einem Menschenrechtsfall, der Inhaftierung des Bürgerrechtlers Osman Kavala durch die türkische Justiz. Der US-Botschafter in Ankara, David Satterfield, hatte zusammen mit anderen westlichen Botschaftern in einem Brief dessen Freilassung gefordert. Das war zweifellos eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Türkei.

Am Samstag nun kündigte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan an, zehn Botschafter zu unerwünschten Personen zu erklären, auch den Vertreter der USA. Diese Eskalation bedeutet eine neue Dimension im Konflikt. Doch dass die Beziehungen zwischen Ankara und Washington auf einen Tiefpunkt zusteuern, war seit Langem absehbar.

Schon unter Bidens Amtsvorgänger Donald Trump hatte es Spannungen gegeben. Die Entscheidung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, statt amerikanischer Patriot-Raketen das russische Luftabwehrsystem S-400 zu kaufen, hatte in den USA zu erheblicher Verärgerung geführt. Zum einen war es in politischer Hinsicht ein kräftiger Tritt gegen das Schienbein der Nato. Zum anderen entging der amerikanischen Rüstungsindustrie ein Großauftrag. Und drittens befürchtete das Pentagon, dass Russland dadurch, dass das S-400-System in die Luftabwehr eines Nato-Landes eingebunden war, Kenntnisse über die Radarsignaturen amerikanischer Kampfflugzeuge erlangen könnte - Wissen mithin, das im Falle eines Konflikts das Leben westlicher Piloten gefährden würde.

Doch die Proteste der USA nützten nichts, Erdoğan stoppte den Kauf nicht. Als Reaktion darauf verhängten die USA Sanktionen gegen Ankara und warfen die Türkei aus dem Programm zum Bau der F-35, des modernsten westlichen Kampfflugzeugs. Ankara hatte ursprünglich bis zu 100 dieser Jets des US-Konzerns Lockheed Martin kaufen wollen und bereits 1,4 Milliarden Dollar angezahlt. Erdoğan will für dieses Geld nun ältere amerikanische Kampfflugzeuge vom Typ F-16 geliefert bekommen.

Ankaras Rolle in den vielen Regionalkonflikten im Nahen Osten hat ebenfalls immer wieder zu Streit mit den USA geführt. Wen die beiden Regierungen jeweils als Feind und wen als Verbündeten betrachteten, war nicht immer deckungsgleich. Kurdische Gruppen zum Beispiel, die in Syrien gegen den "Islamischen Staat" kämpften, waren aus Washingtoner Sicht Freiheitskämpfer, aus türkischer Sicht hingegen Terroristen.

Auch nach dem Regierungswechsel in Washington entspannte sich das Verhältnis nicht, im Gegenteil: Die Biden-Regierung ist eher als die Trump-Regierung geneigt, Menschenrechtsverletzungen in der Türkei zu kritisieren. Nur kurz nach seinem Amtsantritt, im April 2021, verärgerte der neue US-Präsident seinen türkischen Kollegen zudem dadurch, dass er den Massenmord an den Armeniern im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs offiziell als "Völkermord" bezeichnete.

Die Türkei hat zwar eingeräumt, dass die christlichen Armenier damals verfolgt wurden und in großer Zahl umkamen. Aber Ankara hat sich nie zu einem geplanten Genozid bekannt, und die USA haben diesen Begriff auch stets vermieden. Dass Biden ihn benutzte, war für Erdoğan eine Provokation.

Das Reservoir guten Willens war daher sowohl in Washington als auch in Ankara weitgehend leer, als nun der Fall Osman Kavala akut wurde. Sollte Erdoğan nun tatsächlich den US-Botschafter des Landes verweisen lassen, wäre das de facto der endgültige Bruch in den Beziehungen.

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