US-Zwischenwahlen:Die amerikanische Frage

Nach zwei Jahren Trump und vor den Midterms: Driften die Vereinigten Staaten ins Extreme - oder in eine lange verdrängte Normalität?

Von Johannes Kuhn, Austin

Die Midterms sind zur wichtigsten US-Wahl der Geschichte erklärt worden, zur wichtigsten seit 2016 und bis 2020 zumindest. "Die Wahlen in diesem November sind wichtiger als alle Wahlen, an die ich mich in meinem Leben erinnern kann", hat Barack Obama gesagt, immerhin selbst zwei Mal US-Präsident.

Doch der politisch traumatisierte Teil des Landes hat sich angesichts dieser Dringlichkeit nicht nur in hektische Aktivitäten gestürzt, sondern reflektiert dieser Tage über sich selbst und die Nation.

Die Frage, was aus den Vereinigten Staaten wird, ist ja eng verbunden damit, was das Land überhaupt war und ist. Der Aufstieg Donald Trumps hat nicht das amerikanische Selbstverständnis in Frage gestellt; vielmehr hat er wieder einmal offengelegt, wie beeinflussbar dieses Selbstbild ist. Kein Wunder: In der Geschichte der Vereinigten Staaten haben nationale Mythen oft dazu gedient, konfliktreiche Episoden und gewalttätige Kernkonflikte einfach zu übertünchen.

Was also ist das Wesen der amerikanischen Nation?

Der linke Intellektuelle Noam Chomsky hat einen zentralen Mythos Amerikas einmal so beschrieben: Die USA hielten sich für die einzige Nation der Weltgeschichte, in der Politik rein aus abstrakten moralischen Prinzipien wie der Selbstbestimmung, den Menschenrechten und dem Streben nach wirtschaftlichem Wohlstand entsteht - und nicht wie anderswo aus materiellen Interessen von Gruppen, die innenpolitischen Einfluss ausüben.

Je nach politischer Lage haben Zeitgenossen diese Chuzpe von Staatsverständnis als idealistisch gefeiert, als zynisch gebrandmarkt oder als naiv belächelt. "Die amerikanische Bevölkerung hat ein ergreifendes Vertrauen in die Unverletzlichkeit ihrer Republik", schrieb 2005 der Historiker Tony Judt. "Es würde den meisten von ihnen nicht einmal in den Sinn kommen darüber nachzudenken, dass ihr Land in die Hände einer übergriffigen Oligarchie gelangen könnte."

Ein Land in ständiger Veränderung. Doch wohin?

Drei Jahre nach dieser Belächelung wählten die US-Amerikaner mit Barack Obama den fleischgewordenen Mythos einer Nation, die am Ende doch von den "besseren Engeln unserer Natur" (Abraham Lincoln) berührt wird: Ein Land heilt sich selbst.

Schon zwei Jahre später machte der Supreme Court den Weg für unbegrenzte politische Unternehmer-Großspenden frei. 13 Jahre nach Judts Sätzen scheint die amerikanische Demokratie im Würgegriff von Millionen-Zuwendungen und Lobbyismus zu ersticken. Die Autorin Jane Mayer hat in ihrem Bestseller "Dark Money" nachgezeichnet, wie eine von den erzkonservativen Koch-Brüdern angeführte Milliardärsclique in den vergangenen 40 Jahren staatliche Institutionen gezielt korrumpierte oder diskreditierte. Und auch das langsame Gift des Extremismus, das schon lange vor Trump vor allem in den Konservatismus eingesickert ist, hat in der Ära des 45. US-Präsidenten seine volle Wirkung entfaltet.

In dieser verzweifelten Lage spendet diese Tatsache Hoffnung: Niemand in den USA stirbt in dem Land, in dem er oder sie geboren wurde - die USA verändern sich stetig, und immer wieder enorm. Wer in den 1890ern aufwuchs, kam in einer Zeit der politischer Impotenz zur Welt, in der Superreiche und Großfirmen wie Standard Oil ihre Macht hemmungslos ausnutzten. Der gleiche Mensch erlebte dann in den 1930ern die Wirtschafts- und Sozialprogramme Franklin D. Roosevelts.

Doch ist der Bogen des moralischen Universums wirklich lang, aber der Gerechtigkeit zugeneigt, wie Martin Luther King es formulierte? Das ist die Vision, an die sich viele Demokraten klammern.

In diesen Tagen, in denen die Anhänger der regierenden Republikaner eine deutliche Nostalgie für die Hierarchien der 1950er erkennen lassen, erinnert allerdings viel an den Satz des kaputten Südstaaten-Cops Rust Cohle aus der TV-Serie True Detective (verkörpert von Matthew McConaughey): "Zeit ist ein flacher Kreis." Die USA entwickeln sich nach vorne, um doch wieder in ihrer Vergangenheit anzukommen.

Amerikanische Mythen, amerikanische Realitäten

Indizien für den Wahrheitsgehalt dieser These legte vor Kurzem die Historikerin und New-Yorker-Autorin Jill Lepore in ihrem Mammutwerk "These Truths: A History of the United States" vor. Es ist ein Buch, das derzeit auf vielen Nachttischen beunruhigter Amerikaner liegt (womöglich ungelesen, da die gut 800 Seiten schlaflose Nächte bereiten können).

Lepore nimmt die Mythen der USA auseinander und bringt damit ein Land zum Vorschein, das kaum einen seiner Widersprüche im Kompromiss aufgelöst hat, sondern vielmehr weiter mit sich herumträgt. Ein Land, das für seine Bevölkerung die unbegrenzte Erschließung (für Weiße), Massentötung (für Ureinwohner) oder ein Leben in Ketten (für Schwarze) bereithielt. Das ein säkulares Fundament hatte, um dann mit der Industrialisierung religiös zu werden. Das bereits Ende des 19. Jahrhunderts Politik als Geschäft zu betreiben begann und dieses Geschäft mit dem Aufstieg der PR-Industrie professionalisierte und völlig entmoralisierte, um schließlich bei Fox News und später Donald Trump zu landen. Das in der Wahl 2016 den "Standesdreck altbekannten Hasses" und die "blanke Leere beider großen politischen Parteien", also auch der Demokraten, entlarvte.

Und das ein kurzes Gedächtnis hat. Lewis Lapham, ein so klarsichtiger wie gnadenloser Intellektueller, hat noch in der Obama-Amtszeit daran erinnert, dass in der amerikanischen Verfassung nichts von einer Teilung des Wohlstands zu lesen ist. Die Verfasser waren alle Landbesitzer und wollten eine Regierung, die Eigentumsvergrößerung ermöglichte.

Keine klassenlose Gesellschaft

Doch wie konnte sich dann die Idee verbreiten, es handele sich bei den USA um eine klassenlose Gesellschaft? Für Lapham trug das Land nur für kurze Zeiträume, in den 1830ern und der Zeit des wachsenden Sozialstaats von den 1940ern bis in die späten 1960er, Züge einer egalitäreren Gesellschaft. "Für die meiste Zeit zeigen die historischen Aufzeichnungen ein Spiel, das verlässlich zugunsten der Reichen manipuliert wurde, egal wie egoistisch oder blöde diese sind. Auf Kosten der Armen, egal wie innovativ oder unternehmerisch denkend sie sein mögen", schreibt Latham.

Die Verantwortungslosigkeit gegenüber der Allgemeinheit, die viele Republikaner ihren Wählern als Bürgerrecht verkaufen, enthält also nicht nur eine Absage an die Existenz eines größeren Ganzen: keine Steuern für staatliche Aufgaben, keine Mäßigung für das Klima, keine Rücksicht auf "die anderen", keine Waffenkontrolle für das Verhindern von Massakern. Nein, genau diese Haltung scheint näher am historischen Kerngedanken des Landes zu sein als die solidarischeren Tendenzen der Demokraten (die seit der Ära Bill Clintons aber materielle Grundsatzfragen ohnehin nur am Rande streiften). Die Lernkurve, ein flacher Kreis.

Doch was, wenn der Preis dieses konservativen Versprechens im 21. Jahrhundert eine Republik mit autokratischen Zügen ist, eine Dystopie aus Feindlichkeit, Militarisierung, Minderheitenunterdrückung und Misstrauen?

Der texanische Schriftsteller Ben Fountain, dessen Abrechnung mit der US-Gegenwart den sprechenden Titel "Beautiful Country Burn Again" ("Schönes Land, brenne wieder") trägt, formuliert diese "amerikanische Frage" so: "Wollen wir wirklich frei sein? Vielleicht genügt es uns, wieder und wieder gesagt zu bekommen, frei zu sein. Oder es genügt, nach unten zu blicken und Mengen (von sozial schlechter gestellten Einwohnern; Anm. d. Red.) unter uns zu sehen. Interessiert es uns, dass wir nicht frei sind, solange andere noch unfreier sind?"

Die Antwort entscheidet nicht nur über die nähere amerikanische Zukunft - so wie die Frage längst jenseits der Landesgrenzen Dringlichkeit besitzt.

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