Traumatisierte Veteranen:Der Krieg in uns

Die Veteranen kommen zurück. Immer mehr sind traumatisiert und werden ihre Erinnerungen nicht los. Was das heißt, lernen die Deutschen jetzt wieder.

Sebastian Beck

Es gibt Momente, da wird Claude Thomas von einem Sog erfasst und in die Vergangenheit gerissen. Ohne Vorwarnung, ganz plötzlich. Im Supermarkt etwa: Ein Griff ins Regal - und er wittert Gefahr: Die Dose dort ist womöglich gar keine Dose, sondern eine Sprengfalle. Eine Wolke am Himmel, der Knall einer Autotür, und alles ist wieder da. Nachts im Halbschlaf, wenn es still ist, kann er den Krieg riechen. Er riecht nach Blut. Dann weiß er einen Augenblick lang nicht, ob er träumt oder ob er wieder in Vietnam ist: Crew-Chief Claude Thomas aus Pennsylvania, 116. Assault Helicopter Company.

Sie haben den Hubschrauber geparkt, die Wachen schlafen, als in der Nacht der Vietcong die Stellung überrennt. Chaos bricht aus, ein Irrsinn aus Angst und Gewalt. Im Dunkeln kann Claude nicht erkennen, wen er umbringt; Freund und Feind sind im Nahkampf kaum mehr zu unterscheiden. Als das Töten endet, bleiben die Schreie der Verwundeten und Sterbenden. Von 135 US-Soldaten blieben nur 15 oder 20 unversehrt. Alle anderen sind tot oder verletzt.

Den Krieg gegen sich selbst beenden

Claude, 18 Jahre alt, fasst einen Entschluss: Er wird fortan niemandem mehr vertrauen, denn die Gefahr lauert überall. Er wird ein guter Soldat. Bloß schlafen kann er nicht mehr. Mit seinem Maschinengewehr vom Typ M60, Kaliber 7,62 Millimeter, erschießt er vom Hubschrauber aus viele Menschen. Er fühlt nichts dabei. Es ist wie im Traum.

An die Gesichter der Toten erinnert er sich 40 Jahre danach noch, jeden Tag. Claude Thomas heißt jetzt Claude Anshin Thomas. Anshin bedeutet Friedensherz; es ist sein buddhistischer Name. Am 6. August 1995, genau 50 Jahre nach dem Abwurf der ersten Atombombe über Hiroschima, hat er sich zum Zen-Mönch der japanischen Soto-Tradition weihen lassen. Er sagt, der einzige Krieg, den er beenden könne, sei der Krieg gegen sich selbst. Er sagt, seine Geschichte sei die Geschichte aller Soldaten. Die Geschichte der Sieger und Verlierer des Zweiten Weltkriegs, der amerikanischen Irak-Veteranen. Es ist auch die Geschichte der deutschen Heimkehrer aus Afghanistan.

Etwa 62.000 Soldaten der Bundeswehr waren in den vergangenen drei Jahren im Ausland eingesetzt, in Bosnien, im Kosovo und in Afghanistan. Die Öffentlichkeit gewöhnte sich daran, dass Soldaten bei Anschlägen verletzt oder getötet werden. Doch erst ein Fernsehdrama der ARD über einen jungen Afghanistan-Heimkehrer öffnete den Deutschen die Augen für ein vergessenes Phänomen.

Die Angst macht keinen Unterschied zwischen Täter und Opfer

Mit der Zahl der immer gefährlicheren Auslandseinsätze wächst hier wieder eine gesellschaftliche Gruppe heran, die fast verschwunden war: die Kriegsveteranen. Im Gegensatz zum US-Soldaten Claude Thomas haben die meisten von ihnen im Einsatz keinen einzigen Schuss abgegeben, geschweige denn einen Menschen getötet. Aber sie lebten über Monate hinweg in Angst vor Anschlägen, sie haben Tote und Verwundete gesehen, Hunger und Armut erlebt, wie es sich die Deutschen zu Hause längst nicht mehr vorstellen können.

Für viele von ihnen hört der Krieg nicht auf: 245 Mal diagnostizierten die Psychologen der Bundeswehr im vergangenen Jahr bei Soldaten eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). 245 Fälle - das mag auf den ersten Blick verschwindend gering erscheinen im Vergleich zu den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals gab es die Diagnose zwar noch nicht, dafür war aber eine ganze Generation traumatisiert.

Die zerstörerische Kraft der Angst macht keinen Unterschied zwischen Tätern und Opfern. Sie kann jeden zerbrechen. Bei Gewittern zuckten Väter und Großväter zusammen; der Donner klang für sie wie ein Luftabwehrgeschütz. In Aufzügen erkannten sie Bunker oder Unterstände, und somit tödliche Fallen. Ein Spaziergang über den Stadtplatz kam für sie einem Himmelfahrtskommando gleich - in jedem Fenster ringsum konnte ein Scharfschütze lauern.

Auf der zweiten Seite erinnert ein Psychologe an das Lebensgefühl der Nachkriegszeit - und erklärt, warum Soldaten nicht zurück in den Frieden finden.

Der Krieg in uns

Willi Butollo ist Jahrgang 1944, er kann sich noch genau an das Lebensgefühl in der Nachkriegszeit erinnern, als er im österreichischen Kärnten aufwuchs. Kriegsversehrte bestimmten das Straßenbild, eine kollektive Depression lastete auf der Gesellschaft und die unterschwellige Furcht, es könnte womöglich bald wieder losgehen mit dem nächsten großen Krieg. Dieselbe Stimmung spürte er, als er in den vergangenen Jahren als Psychologe auf dem Balkan tätig war.

Butollo ist Professor für Psychologie in München. Er leitet dort das Institut für Traumatherapie. Der Wissenschaftler und Therapeut beschäftigt sich seit 1985 mit Menschen, die mehr durchgemacht haben, als sie ertragen konnten. Es sind nicht nur Soldaten. Zu Münchner U-Bahnfahrern, die mitansehen mussten, wie sich Selbstmörder vor ihnen auf die Gleise warfen, kamen später Sanitäter und Feuerwehrleute hinzu, denen die Bilder von Unfällen nicht mehr aus dem Kopf gingen.

Kein Kriegsheld mehr, sondern Teil der Kaste der Ausgestoßenen

Sie alle zeigen mehr oder weniger ähnliche Symptome, die von der Weltgesundheitsorganisation als Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) zusammengefasst werden: Dazu zählen Schlafstörungen, erhöhte Wachsamkeit, Wutausbrüche, Schreckhaftigkeit. Entweder erinnern sich die Betroffenen immer wieder an das traumatisierende Geschehen oder aber - das andere Extrem - sie haben es aus ihrem Gedächtnis verdrängt.

Butollo mag den Begriff Posttraumatische Belastungsstörung nicht. Der Blick der Wissenschaft, sagt er, sei viel zu sehr auf die einzelnen Symptome fixiert; dabei fielen jene Betroffene, die nicht genau dem Schema entsprechen, durchs Raster der Diagnostik. Entsprechend skeptisch ist er, wenn vom Verteidigungsministerium Zahlen zu PTBS-Patienten veröffentlicht werden. Er hält sie für tendenziell zu niedrig. Außerdem hat Butollo festgestellt, dass die sozialen Folgen vernachlässigt werden: Wer an einem Trauma leidet, steigt im Beruf ab, verliert sein Selbstwertgefühl. Der Kampf mit der Versicherung demütigt. Seine Patienten, sagt er, würden oft von der Familie geschickt.

Auch Butollo selbst hat seine Erfahrungen mit der Angst gemacht. Während des Balkankrieges arbeitete er in den eingekesselten Enklaven Bosniens mit Ärzten und Psychologen. Er versuchte, die von der permanenten Furcht gezeichneten Kollegen aus ihrem "Autismus" herzuholen, wie er es nennt. Auf der Rückfahrt von einem Seminar musste Butollos UN-Fahrzeug ein Gebiet durchqueren, das unter Granatbeschuss lag. Da spürte er sie selbst, diese existentielle Bedrohung, die ihn plötzlich von den Menschen daheim in Deutschland entfremdete. Die niemanden außer ihn etwas anging.

Er verstand jetzt, warum Soldaten nicht zurück in den Frieden finden. Ihr Selbst ist gespalten: Ein Teil der Person lebt in der flauen Alltagswelt, der andere will zurück in den intensiven Grenzzustand des Krieges, so schrecklich er auch gewesen sein mag. Deshalb dienten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs so viele Wehrmachtssoldaten in der französischen Fremdenlegion. Sie zogen das neue Schlachtfeld in Indochina der Rückkehr ins ausgebombte Deutschland vor.

Nur in der Nähe zum Tod fühlten sie sich noch lebendig.

Er wäre gerne länger in Vietnam geblieben

Jetzt kehren wieder deutsche Soldaten aus dem Krieg zurück. Im Gegensatz zu früher werden sie diesmal nicht alleine gelassen. Psychologen der Bundeswehr kümmern sich um sie. Aber kann man Menschen überhaupt von ihrer peinigenden Erinnerung heilen? Die Opfer von Gewalt, sagt Butollo, müssten das Grauen in der Therapie nochmals durchleben, um es in ihr Leben einbauen zu können. Aktualisierung heißt das in der psychologischen Fachsprache. Und sie müssen sich von der Illusion verabschieden, alles könnte wieder so werden, wie es einmal war - vor dem Unfall, vor dem Vietnamkrieg und vor dem Einsatz in Afghanistan.

Für Claude Thomas beginnt der eigentliche Leidensweg, nachdem er aus dem Militärdienst entlassen wird. Er wäre gerne länger in Vietnam geblieben, denn der Krieg ist seine Heimat geworden. Hinter ihm liegen 625 Stunden Kampfeinsatz. Es ist nichts mehr, wie es einmal war. Da ist kein Therapeut, der auf ihn wartet. Er ist auch kein Kriegsheld mehr, er ist Vietnam-Veteran und gehört zur Kaste der Ausgestoßenen. Seine Gegenwart macht den Menschen ein schlechtes Gewissen.

Er erinnert sie daran, dass das Land einen Krieg geführt und verloren hat. Schlaflosigkeit zermürbt ihn. Er wird gewalttätig, betäubt sich mit Drogen, lebt zwei Jahre in einem ausgebrannten Autowrack. Weil er das Geschrei von kleinen Kindern nicht aushalten kann, verlässt er seine Frau und seinen Sohn. Er schmuggelt jahrelang Rauschgift von Afghanistan nach Iran. Darauf steht die Todesstrafe, aber genau dieses Risiko ist es, das er sucht.

Auf der letzten Seite stellt sich die Frage, ob es einen Kriegsgrund geben kann, der solche Opfer wert ist.

Der Krieg in uns

Rückblickend sagt er, dass er zweifelsohne an einer Posttraumatischen Belastungsstörung gelitten habe. Im medizinischen Sinne leidet er immer noch daran. Aber Claude Anshin Thomas kann mit der Bezeichnung noch weniger anfangen als der Psychologe Butollo. Denn sie weist die Versehrten des Krieges als Kranke aus. Und sie spricht damit all jene von Schuld frei, die daheim geblieben sind und mit ihren Steuern die Bomben und Hubschrauber finanziert haben.

Plötzlich versteht er, warum ihn das Schreien seines Sohnes so gepeinigt hat

Der Begriff suggeriert, dass hier eine medizinische Behandlung angezeigt ist wie nach einem Beinbruch. Er gaukelt vor, dass das Kriegsgeschehen und seine Folgen kontrollierbar seien. Aber nicht das Leiden am Krieg sei die Krankheit, sagt Claude Anshin Thomas, sondern der Hass, der zum Krieg führe. Und über sich selbst sagt er, er sei ein ganz normaler Mensch wie jeder andere. Er sei auch nicht mehr oder wenig schuldig als jeder andere. Aber er will die Welt nicht mehr in Gut und Böse, in Opfer und Täter, in Freund und Feind teilen.

Es vergehen schlimme Jahre, bis er zu dieser Einsicht kommt. 1990 wird er zu einem Meditationskurs eingeladen, den ausgerechnet ein buddhistischer Mönch aus Vietnam leitet. Als Claude dem Mann, der doch das Gesicht des Feindes hat, erstmals in die Augen blickt, wird er von Erinnerungen überwältigt. Es geschieht genau das, was Psychologen als Aktualisierung bezeichnen: Crew-Chief Claude Thomas aus Pennsylvania, 116. Assault Helicopter Company, ist wieder im Gefecht. Sie sind mit dem Hubschrauber am Rande eines Dorfes gelandet. Die Besatzung wird von Kindern umringt.

Als immer mehr von ihnen herbeiströmen, macht sich unter den Soldaten ein unbehagliches Gefühl breit. Einer von ihnen feuert mit dem Maschinengewehr in die Luft. Die Kinder rennen weg, nur ein schreiendes Baby bleibt am Boden zurück. Einige aus der Gruppe gehen auf das Kind zu. Claude zögert. Als er die anderen warnen will, gibt es eine Explosion. Er findet sich am Boden wieder, bedeckt mit Blut und abgerissenen Gliedmaßen. Mehr als 20 Jahre lang war dieses Erlebnis aus seiner Erinnerung gelöscht. Plötzlich versteht Claude, warum ihn das Schreien seines Sohnes so gepeinigt hat.

Kann es einen Kriegsgrund geben, der solche Opfer wert ist? Er sei kein Pazifist, sagt Traumatherapeut Butollo. Aber auf dem Balkan hat er zur Genüge gesehen, was der Krieg auch mit den Menschen anrichtet, die ihn äußerlich unversehrt überstanden haben. Nach dem Balkankrieg, sagt Butollo, sei die Hemmschwelle für regionale Militäreinsätze immer weiter gesunken.

Als jemand, der gewissermaßen beruflich mit den Trümmern des Krieges zu tun habe, könne er nur zur Zurückhaltung raten. Wenn die Bundesregierung schon der Meinung sei, dass sie den Terrorismus in Afghanistan bekämpfen müsse, dann solle sie den Soldaten vorher wenigstens eines klar sagen: Ihr Einsatz könne für sie gleichermaßen langfristige und gravierende Folgen haben.

Anshin glaubt nicht mehr an den gerechten Krieg

Claude Anshin Thomas sitzt bei Freunden in Leverkusen auf dem Wohnzimmersofa. Sein Kopf ist kahl rasiert, er trägt das violette Gewand der Soto-Mönche. Seine Knie sind mit Bandagen umwickelt; ein Arzt hat ihn kostenlos operiert. In den vergangenen 15 Jahren ist Anshin zu Fuß auf der ganzen Welt unterwegs gewesen. In allen möglichen Kriegsgebieten hat er mit Soldaten gesprochen.

Ihre Geschichten waren immer dieselben. Im Grunde genommen, sagt Anshin, ist es eine einzige Geschichte des Leids. Gerade kommt er aus Kolumbien zurück, wo er den Präsidenten Álvaro Uribe und frühere Guerilleros der Farc getroffen hat. Auch sie gaben sich der Illusion hin, dass sie für eine gute Sache töteten. Einer von ihnen hat gefragt: "Was soll ich mit den Geistern der Toten tun?"

"Du musst ihnen Namen geben und in Erinnerung an sie leben", hat Anshin geantwortet. Er glaubt nicht mehr an den gerechten Krieg oder militärische Konfliktlösungen, denn er war selbst schon an einem missglückten Versuch beteiligt. Auch den Kampf gegen sich selbst hat er eingestellt. Beim Abspülen kam ihm vor Jahren der erlösende Gedanke, dass er seine Schlaflosigkeit einfach akzeptieren müsse. Jetzt liegt er nachts im Bett und wartet geduldig, bis ihm irgendwann die Augen wieder zufallen.

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