Süddeutsche Zeitung

Traumatisierte Soldaten im Ersten Weltkrieg:Als die Helden das Kriegszittern bekamen

Naiv zogen vor 100 Jahren Zigtausende Soldaten zur Front, um Ruhm und Orden zu erlangen - doch aus dem Ersten Weltkrieg kamen Unzählige als Krüppel und psychische Wracks zurück. Eine Ausstellung in Belgien widmet sich den traumatisierten Kriegern.

Kein Angriff mit wehenden Fahnen, kein schneller Sieg von wagemutigen Helden mit Orden. Stattdessen: Viele Tote. Und junge Menschen, deren Blicke stumpf und leer sind. Männer, die nicht mehr aufhören können zu zittern.

Der Erste Weltkrieg, aber auch spätere Konflikte wie in Vietnam und am Persischen Golf, haben Soldaten zu seelischen Wracks gemacht. Oft gehen körperliche Wunden einher mit seelischen Verletzungen, wie die Ausstellung "Krieg und Trauma" im Dr.-Guislain-Museum im nordbelgischen Gent zeigt.

In Flandern, das teilweise Schauplatz des Grabenkrieges zwischen 1914 und 1918 war, starben unzählige Soldaten in sogenannten Abnutzungsschlachten, die wenig Landgewinn brachten, aber einen immensen Blutzoll forderten. Die Überlebenden kehrten gezeichnet von den Schlachtfeldern wieder. Der emotionale Krieg ging in vielen von ihnen auch im Frieden weiter.

Von "Kriegszittern" sprach man in Deutschland, vom "shell shock" in den englischsprachigen Ländern, "Obusite" nannten es Franzosen und frankophone Belgier, wenn ein Soldat nach dem Fronteinsatz nicht mehr aufhören konnte zu zittern, wenn er von Albträumen und Verhaltensstörungen geplagt wurde.

In dem Begriff steckt das französische Wort "obus" für "Granate", denn auf den ständigen Einschlag der Geschosse wurde das neue Krankheitsbild zurückgeführt. Der Ausstellungsort in Flandern ist nicht zufällig gewählt: Das Museum logiert in Belgiens ältester psychiatrischer Anstalt. Sie wurde im 19. Jahrhundert eingerichtet und ist in einem Teil des Gebäudes noch heute in Betrieb.

Vor bald einhundert Jahren wurden in dem Hospital Männer behandelt, die aus den Schützengräben des Weltkrieges mit ungewohnten Krankheitssymptomen zurückkehrten. Allerdings war die Psychiatrie für die Opfer oft keine Hilfe. Denn nicht selten wurden die von der "obusite" Betroffenen nicht als Kranke, sondern als "Simulanten" und "Drückeberger" eingestuft.

An der Front "wurde das Schicksal der Individuen stets dem der Gruppe untergeordnet", sagt der künstlerische Leiter der Genter Ausstellung, Patrick Allegaert. "Daher wurden die psychologischen Traumata oft als Probleme der Disziplin angesehen und angegangen." Mancher Kranke wurde gar als Deserteur erschossen.

Aber die Ausstellung bleibt nicht beim Ersten Weltkrieg stehen, selbst wenn dieser in Belgien und anderen Ländern weiter als "Der Große Krieg" tituliert wird, sondern widmet sich auch neueren Konflikten. Der US-Soldat, der auf dem berühmten Bild des Fotografen Don McCullin verewigt ist, hat 1968 gerade eine Schlacht im Vietnamkrieg miterlebt. Die Finger noch um den Lauf seines Gewehres gelegt, schaut er mit starrem, leerem Blick über die Kamera hinweg.

Immerhin wuchs im Laufe der Zeit mit der Zahl der Kriege und Kriegsheimkehrer auch die Sensibilität für ihre Leiden. Gerade nach den Kriegen am Golf und seit Beginn der Afghanistan-Einsätze wird das Problem der sogenannten posttraumatischen Belastungsstörungen (kurz PTBS, in englischer Sprache PTSD) immer ernster genommen, macht Ausstellungsleiter Allegaert deutlich.

Zwar seien die PTBS weiter schwer zu diagnostizieren und zu behandeln, aber: "Dieser Typ von Trauma wird heute von der Medizin stärker berücksichtigt."

Erst seit 1994 wird PTBS als eigenständige Krankheit behandelt

Die Kunst hat sich mit ihren Mitteln der Versehrten angenommen. Das "Selbstporträt in Uniform" von Achille Van Sassenbrouck aus dem letzten Kriegsjahr 1918 zeigt Gesicht und Uniform in ähnlich düsteren Grüntönen: Die menschliche Individualität scheint sich in der Soldatentracht aufzulösen. Der Künstler Rick Wouters hat nach seinem Kriegsdienst ein Bild namens "Total verstört" gemalt. "Der Anblick dieser vielen jungen Verstorbenen hat mich verrückt gemacht", schrieb Wouters 1915.

Viel näher, jedenfalls zeitlich, ist uns die Montage "Das Opfer" von James Nachtwey. Die Dutzenden Bilder wurden 2006 unter US-Soldaten im Irak gemacht. Sie zeigen blutüberströmte Opfer neben solchen, an denen vor allem der ängstliche Blick verstört.

Die Soldaten, die mit dem Kriegszittern überlebten, wurden lange Zeit alleine mit ihren Leiden gelassen. Es dauerte bis 1994, also 80 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges, bis PTBS als eingenständige Krankheit behandelt wurde.

Linktipp: Fotos von James Nachtwey, die er im Irak machte während er US-Militärärzte begleitete.

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SZ.de/AFP/Jérôme Rivet/odg/dmo
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