Trauerfeier in Nizza:"Ein Teil von mir ist in dieser Nacht gestorben"

People enjoy the beach on July 17, 2016, in front of the Promenad

Nach dem Attentat legten Trauernde Blumen an der Strandpromenade nieder. Die Folgen des Anschlags sind noch immer zu spüren.

(Foto: dpa)

In Nizza raste am 14. Juli ein Attentäter in eine Menschenmenge. Heute findet in der Stadt eine Gedenkfeier statt. Sieben Bewohner erzählen, was sich in den vergangenen drei Monaten verändert hat.

Protokolle: Sebastian Jannasch

Mit einer nationalen Gedenkfeier würdigt Frankreich heute die Todesopfer des Attentats in Nizza. Erwartet werden rund 2500 Teilnehmer, unter anderem Präsident François Hollande, Minister und Abgeordnete, Angehörige von Opfern und Überlebende. Vor drei Monaten, am Abend des französischen Nationalfeiertags, hat der aus Tunesien stammende Mohamed Lahouaiej-Bouhlel an der Promenade des Anglais mit einem Lastwagen gezielt Menschen überfahren, 86 getötet und Hunderte verletzt, die sich für ein Feuerwerk versammelt hatten. Die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) hat den Anschlag für sich beansprucht. Bislang sind jedoch keine eindeutigen Verbindungen des Attentäters zur Terrormiliz nachgewiesen worden.

Wie sich die Stadt in den vergangenen Monaten verändert hat, erzählen hier Augenzeugen, ein Sprecher der Opfer, ein Vertreter der muslimischen Gemeinde, eine Psychologin, die in Nizza gegen die Radikalisierung von Jugendlichen kämpft, und weitere Betroffene.

Vincent Delhomel-Desmarest, Generalsekretär der Opferorganisation Promenade des Anges:

"Ich habe in einem Restaurant gearbeitet, das direkt an der Promenade liegt, auch in der Nacht des Attentats. Aber dorthin kann ich nicht wieder zurückkehren. Die Erinnerungen an all die verwundeten und verletzten Menschen, die Kinder, die Schreie und der Lärm werden mich mein ganzes Leben lang verfolgen. Ein Teil von mir ist in dieser Nacht gestorben. Zurzeit bin ich nicht in der Lage zu arbeiten.

Ich empfinde gegenüber niemandem Hass. Das war einzig die Barbarei eines kranken Täters. Doch wie viele der Opfer bin ich auch drei Monate nach dem Attentat noch immer in tiefer Trauer und stehe unter Schock. Es ist schwer mit solch einer Willkür zurechtzukommen, der Kinder und Erwachsene, Franzosen und Besucher, Menschen verschiedener Nationalitäten wahllos zum Opfer gefallen sind. Sie alle wollten nur das Feuerwerk zum Nationalfeiertag anschauen.

Einige sind immer noch im Krankhaus, aber auch die anderen Betroffenen leiden unter den Folgen der schrecklichen Ereignisse. Unsere Organisation setzt sich dafür ein, dass alle, die schweres physisches oder psychisches Leid erlitten haben, therapeutische und finanzielle Unterstützung bekommen.

Die Gedenkveranstaltung in Nizza ist für die Opfer und deren Familien sehr wichtig. Es ist eine Anerkennung ihres Leids und ein Zeichen, dass die gesamte Nation zusammenkommt, unabhängig von Parteipolitik, Religion und Herkunft."

Joëlle Martinaux, Beauftragte für Soziales im Rathaus von Nizza

Joëlle Martinaux

Joëlle Martinaux, Beauftragte für Soziales im Rathaus von Nizza

(Foto: privat)

"Neben seelischen Problemen haben einige Familien seit dem Attentat auch mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen, zum Beispiel, wenn der Mann und Vater, der vorher das Geld verdient hat, nun nicht mehr lebt.

Es gibt einen nationalen Fonds für die Opfer von Terrorakten und deren Angehörige, der sich aus Beiträgen von allen französischen Versicherungsnehmern speist. Hier geht es teilweise um Schmerzensgeld in Millionenhöhe. Es braucht etwas Zeit, bis die Anträge bearbeitet sind.

Die Stadt und das kommunale Sozialzentrum haben deshalb direkt nach dem Attentat zu Spenden aufgerufen und einen Hilfsfonds eingerichtet. Mit dem Geld wollen wir Betroffene, egal aus welchem Land sie stammen, sehr schnell unterstützen. Es geht um Menschen, die gegenwärtig Probleme haben, zum Beispiel ihre Miete oder den Strom zu bezahlen. Außerdem wollen wir helfen, wenn für Menschen mit Verletzungen Wohnungen umgebaut werden müssen. Das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn einer Person die Beine amputiert werden mussten und nun ein Treppenlift benötigt wird.

Wir sind sehr froh, dass wir großzügige Spenden erhalten haben. Unter den Spendern sind Privatpersonen, die trotz bescheidener Möglichkeiten ein paar Euro geben, aber auch Firmen und Vereine, die mehrere Tausend Euro überweisen. Inzwischen ist so schon eine Viertelmillion Euro zusammengekommen."

"Ich wünsche mir, dass diese Tragödie uns eine Chance bietet, näher zusammen zu rücken"

Boubekeur Bekri, Rektor der Moschee Al Forqane in Nizza und Vizepräsident des regionalen Rates der Muslime

Boubekeur Bekri

Boubekeur Bekri, Rektor der Moschee Al Forqane in Nizza und Vizepräsident des Rates der Muslime der Region Provence-Alpes-Côte d'Azur.

(Foto: privat)

"Das erste Opfer des Attentäters war eine muslimische Mutter von mehreren Kindern. Etwa ein Drittel der Getöteten praktizierte den Islam. Dieser Anschlag hat nichts mit Religion zu tun. Das war ein Anschlag auf die Menschlichkeit.

Nach der Tat ist es passiert, dass Menschen einer jungen, muslimischen Frau auf der Straße zugerufen haben, sie solle abhauen, nach Hause gehen. Wo soll das sein? Sie ist Französin und hier aufgewachsen. Wir spüren die Ablehnung eines Teils der Bevölkerung sehr deutlich. Gleichzeitig gibt es aber auch eine große Solidarität, die sich auf alle Opfer des Attentats bezieht, denn die Familien teilen alle dasselbe Leid.

Ich wünsche mir, dass diese Tragödie uns eine Chance bietet, näher zusammen zu rücken. Natürlichen dürfen Muslime sich nicht von der restlichen Gesellschaft abschotten. Aber andere müssen auch bereit sein, die Zugehörigkeit zur Nation nicht an der Religion festzumachen. Ich trete für einen toleranten, modernen Islam ein.

Ende September konnte ich eine Delegation von Opfern des Attentats begleiten, die von Papst Franziskus in Rom empfangen wurden. Ich bin ein gläubiger Mensch und deshalb optimistisch, dass es gelingt, die Gesellschaft zu versöhnen anstatt immer mehr Wut aufzustauen."

Brigitte Juy-Erbibou, Psychoanalytikerin in Nizza, die Opfer behandelt hat und gegen die Radikalisierung von Jugendlichen kämpft

"Nach dem Anschlag war ich eine von zahlreichen Psychologen, die Opfer und Angehörige betreut haben. In Nizza wurde ein zentraler Anlaufpunkt für Hilfesuchende geschaffen. Viele der Betroffenen, die den Anschlag selbst erlebt haben oder deren Familienmitglieder betroffen sind, sind nun in therapeutischer Behandlung; bei einigen zeigen sich Symptome posttraumatischer Belastungsstörungen.

Mittlerweile suchen vor allem Pflege- und Einsatzkräfte psychische Betreuung, die in den Stunden und Tagen nach der Tat die Verletzten versorgt haben. Viele kommen mit den Erinnerungen alleine nicht mehr zurecht. Andere Augenzeugen des Attentats sind auch erst jetzt, drei Monate später, überhaupt in der Lage über das Attentat zu sprechen.

Mittlerweile habe ich mich wieder meiner eigentlichen Aufgabe zugewandt. Mit der Organisation Entr'Autres engagieren sich meine Kollegen und ich schon seit Jahren im Kampf gegen die Radikalisierung von Jugendlichen. Die Region Nizza ist ein Zentrum islamistischer Fanatiker. Hier gibt es prominente Islamisten, die mit Propaganda schon viele junge Menschen für den Kampf in Syrien rekrutiert haben. Unter den französischen Kommunen, aus denen die meisten Kämpfer nach Syrien ausreisen, liegt Nizza weit vorne.

Um diese Radikalisierung zu verhindern, arbeiten wir einerseits präventiv. Wir sind an Schulen präsent, klären Lehrer und Sozialarbeiter über mögliche Anzeichen einer Radikalisierung auf. Wir arbeiten aber auch mit Menschen, die auf dem Weg sind, sich zu radikalisieren. Das ist sehr schwierig. Diese jungen Menschen sind davon überzeugt, für ein Ideal zu kämpfen, sie steigern sich in die Rolle eines Helden hinein. Unser Ziel ist es, ihr Vertrauen zu gewinnen und sie dazu zu bringen, ihre Überzeugungen zu hinterfragen. Das ist ein sehr langwieriger Prozess."

"Wann immer ich einen weißen LKW auf der Straße sehe, erschrecke ich"

Christian Estrosi, zweiter Bürgermeister von Nizza und Präsident der Region Provences-Alpes-Côte d'Azur.

Trauerfeier in Nizza: Christian Estrosi, Präsident der Region Provences-Alpes-Côte d'Azur. Er gilt als mächtigster Politiker von Nizza.

Christian Estrosi, Präsident der Region Provences-Alpes-Côte d'Azur. Er gilt als mächtigster Politiker von Nizza.

(Foto: AFP)

(Er gilt als mächtigster Politiker von Nizza. Nach dem Attentat warf der umstrittene konservative Republikaner der Regierung von Präsident Hollande vor, die Stadt allein zu lassen.)

"Ich forderte seit drei Monaten eine nationale Gedenkfeier und freue mich, dass nun auch der Präsident sie akzeptiert hat. Es ist wichtig für die Familien der Opfer, dass die Nation die Toten würdigt und den Opfern und ihren Familien zur Seite steht. Da es auch nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo und den Bataclan eine nationale Zeremonie gab, hätten wir es nicht verstanden, wenn es hier keine gegeben hätte. Ich hoffe, dass es die letzte Gedenkveranstaltung sein wird.

An unserem zentralen Anlaufort für die Opfer haben wir einen Ansprechpartner für Kinder und Ehepartner von Verstorbenen eingesetzt. Auch Anwälte aus Nizza stehen ihnen zur Verfügung. Außerdem ist eine Versteigerung zugunsten der Opfer geplant sowie ein Konzert, das ihnen helfen soll.

Um die Sicherheit im öffentlichen Raum zu verbessern, habe ich nach dem Attentat eine Reihe von Maßnahmen ergriffen. Um unsere städtischen Gebäude den aktuellen Bedrohungen anzupassen, brauchen wir eine Überprüfung durch einen Sachverständigen. Die Umgebung von Schulen wurde gesichert, es wurden dort 170 Videokameras angebracht und Alarmknöpfe installiert, die mit einem Überwachungszentrum verbunden sind.

Wie alle Bewohner von Nizza und wie so viele Franzosen werde ich die schrecklichen Geschehnisse der Nacht und jene, die folgten, nie vergessen, denn sie stellen die schlimmste Tragödie dar, die Nizza jemals widerfahren ist - auf dem strahlendsten, am meisten besuchten und magischsten Ort unserer Stadt, der Promenade des Anglais."

Damien Allemand, Journalist der regionalen Tageszeitung Nice Matin

"Das Attentat vom 14. Juli hatte große Auswirkungen auf die Stadt. Viele Großveranstaltungen und Kulturfestivals wurden abgesagt, um keine Sicherheitsrisiken einzugehen. Die Touristenzahlen sind zurückgegangen, die Hotelbuchungen waren geringer, in den Restaurants und Bars an der Promenade blieben viele Gäste aus. Für einige Unternehmer der Branche bedeutete das im Sommer Umsatzeinbußen zwischen 20 und 30 Prozent.

Ich selbst war an der Promenade, als das Attentat passierte, ich sah den Wagen an mir vorbeifahren. Die Erinnerungen werde ich nicht mehr los. Wann immer ich jetzt einen weißen LKW auf der Straße sehe, erschrecke ich und verhalte mich ganz vorsichtig."

Yves Mazé, stammt aus Nizza und betreibt einen Online-Shop für Fahrräder

Yves Mazé

Yves Mazé ist in Nizza aufgewachsen und hat das Attentat an der Strandpromenade erlebt.

(Foto: privat)

"An dem Abend des Attentats war ich mit meiner Frau und einem Freund an der Promenade. Wir hatten uns das Feuerwerk angeschaut und waren gerade auf dem Weg nach Hause, als um uns herum Panik ausbrach. Ohne zu wissen, was passiert war, sind wir einfach losgerannt. Erst viel später haben wir verstanden, wie knapp es war und wie viel Glück wir hatten.

Ich bin in der Stadt aufgewachsen. Nizza war für mich immer unantastbar, die Stadt von Sonne, Strand und Meer. Ich habe die Befürchtung, dass meine Kinder nicht mehr in der Lage sein werden, so unbeschwert am Strand zu spielen, wie ich das noch konnte. Ich finde es wichtig, sich nicht zu verstecken und sich weiter normal in der Stadt zu bewegen. Trotzdem bin ich etwas paranoid geworden. Kurz nach dem Attentat war ich mit Freunden wieder in einem Restaurant an der Promenade. Aber es fühlte sich sehr merkwürdig an, nur wenige Meter von der Straße entfernt zu sein, wo so viele Menschen starben. Also haben wir schnell aufgegessen und sind wieder gegangen."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: