Trauer um Lech Kaczynski:Die polnische Tragödie

Der verunglückte Staatschef Kaczynski gehörte zur Gruppe der Geschichtspolitiker, die Polen bis heute spaltet. Vielleicht gelingt im Leid nun die Versöhnung der Nation mit ihrer Vergangenheit.

Stefan Kornelius

Ein verfluchter Ort sei dieses Katyn, entfuhr es Aleksander Kwasniewski, der nach Lech Walesa Präsident der dritten polnischen Republik war. Ein verfluchter Ort, der die polnische Tragödie widerspiegelt wie kein anderer Flecken.

Katyn steht für das historische Bewusstsein eines Landes, das sich aus den Extremen speist: Vernichtung und Wiedergeburt, Teilung und Versöhnung, Verfolgung und Widerstand. Die polnische Geschichte ist in ihrer Dimension eschatologisch, letztgültig, immer die tiefsten Grenzerfahrungen ausschöpfend. Katyn ist der Symbolort für diesen historischen Extremismus. Und nun, nach dem Unfalltod so vieler aus der Spitze dieses Landes, ist diese Grenzerfahrung um eine schmerzensreiche Erfahrung erweitert worden.

Das Volk der Opfer

Polen ist eine leidgeprüfte Nation, die immer wieder von der Wucht der Geschichte erfasst wurde. Die Politikerriege um den nun getöteten Präsidenten Lech Kaczynski hat sich von diesen historischen Strudeln treiben lassen. Gerne wird sie als nationalkonservativ geschmäht, als gestrig, als verknöchert. Aber sie trägt in besonderer Weise diese spezielle polnische Erfahrung in sich, die sich nur in einer mehrfach geteilten, verfolgten und misshandelten Nation entwickeln konnte: misstrauisch gegen die mächtigen Nachbarn, geborgen in der eigenen Nation, wütend und unversöhnlich in der Rolle des Opfers.

Die Polen sind ein Volk der Opfer. Und Katyn steht für diesen Opfermythos, der essentiell ist für das Verständnis der polnischen Politik. 123 Jahre lang war Polen geteilt, ein Spielball der Mächte; dann - gleich nach der zweiten Republik-Gründung 1919 - wieder missbraucht und bedroht, überrannt von den Diktatoren des Kontinents, erneut brutal zerschlagen und später als Vasallenstaat der stalinistischen Sowjetunion gehalten.

In Katyn wurde 1940 der polnische Selbstbehauptungswille geköpft, von hinten erschossen auf Befehl Stalins. Die dritte Republik, die Kaczynski nach dem Sturz der Kommunisten 1989 so sehr prägte, fand auch in Katyn und in all den anderen Opfergängen des polnischen Volkes ihre Identität. Der Präsident und seine Gefolgsleute haben so eine Opferpolitik entwickelt und in den Mittelpunkt ihrer Programmatik gestellt. Praktisch zu beobachten war sie in vielen Entscheidungen, Gesten und Handlungen gegenüber dem Nachbarn in Deutschland, gegenüber der Europäischen Union und natürlich gegenüber Russland.

Geborgenheit in der Nation

Kaczynski traute lieber einer starken Nato als einem runden Tisch in der EU, er suchte Geborgenheit in der Nation statt im Vertrag von Lissabon, er reiste als gerade gewählter Präsident 2005 nach Katyn, um Kraft aus der Vergangenheit zu schöpfen, statt in Moskau nach der Moderne zu forschen. Welch eine Tragödie also, dass dieser Präsident nun mit vielen aus der Spitze des Staates auf dem Weg zum Symbolort der nationalen Opfergeschichte sein Leben lassen musste.

Gestorben sind neben dem Präsidenten und seiner Frau die stellvertretenden Parlamentspräsidenten, Spitzenpolitiker aller Parteien, die Führung der Streitkräfte, der Notenbankchef, der letzte Exil-Präsident, der stellvertretende Außenminister, wichtige Berater, Kanzleichefs, fast einhundert Menschen - jeder für sich ein Vertreter neuer polnischer Stärke und des Selbstbehauptungswillens einer immer noch jungen Demokratie.

Polen neigt dazu, sich Vergewisserung in seiner Leidensgeschichte zu verschaffen. Deswegen trägt der Flugzeugabsturz von Katyn die Gefahr in sich, zu einem Mythos der nationalen Geschichtsschreibung zu werden. Zu viel Symbolik und Tragik treffen da aufeinander. Das sollte nicht geschehen.

Gefahr der Mystifizierung

Die Tragödie darf nicht mystifiziert werden. Wenn es denn eine Hoffnung gibt in all dem Leid, dann diese: Vielleicht gelingt nun, was seit Gründung der dritten Republik im Lager- und Ideologiestreit immer wieder scheiterte - die Versöhnung der Nation mit ihrer Vergangenheit, die Verständigung einer Gesellschaft über ihr Geschichtsbild, die Entpolitisierung von Geschichte. Kaczynski stand für die Gruppe der Geschichtspolitiker, die Polen bis heute immer wieder spaltete und zu einem schwierigen Partner in Europa machte. Sein Polen bezog Stärke aus den Mythen der Vergangenheit.

Dies aber war auch ein Polen der Abschottung, des Misstrauens, der Konspiration. Der isolationistische Trend ist geradezu nachzuschlagen in der Verfassung. Sie setzt keine klare Regeln für die Vertretung des Landes in der Welt. Präsident und Ministerpräsident kontrollieren sich in der Außenpolitik bis hin zur Lähmung. Auch im Gedenken von Katyn war es so. Das Unglück muss deshalb Mahnung sein, auf dass sich Polen von den Fesseln seiner Geschichte befreit. Ein Präsident Kaczynski war unempfänglich für die delikaten Signale der Versöhnung, die Russlands Ministerpräsident Putin vor wenigen Tagen noch über die Gräber aussandte. Kaczynski wollte stattdessen Opferpolitik betreiben, als er mit seiner Delegation die Unglücksmaschine bestieg. Auf tragische Weise ist er nun selbst Opfer geworden.

Polen muss keine Opfer mehr bringen. Es hat seinen Platz in Europa gefunden. Und es wird eines Tages darüber entscheiden, ob auch Russland seinen Frieden mit Europa machen kann. In Katyn.

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