Nachruf:Trauer um Historiker Thomas Großbölting

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Der Zeithistoriker Thomas Großbölting ist beim ICE-Zugunglück in Hamburg gestorben. (Foto: Guido Kirchner/dpa)

Er hat sich besonders um die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs im Raum der Kirchen verdient gemacht. Jetzt ist der 55-Jährige bei dem ICE-Unglück in Hamburg ums Leben gekommen.

Von Annette Zoch

Seine unvoreingenommene Neugierde, seine Zugewandtheit und sein feiner Humor haben ihn ausgezeichnet. Der Hamburger Zeithistoriker Thomas Großbölting ist am Dienstag bei dem Zusammenstoß eines ICE mit einem Lastwagen in Hamburg ums Leben gekommen. Er wurde nur 55 Jahre alt.

Einer breiteren Öffentlichkeit wurde der Historiker durch seine Missbrauchsgutachten über die Kirchen bekannt. Vor gut einem Jahr stellte der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Hamburg zusammen mit anderen Wissenschaftlern die sogenannte Forum-Studie zum Missbrauch in der evangelischen Kirche und der Diakonie vor. Davor war er für die Studie über das Bistum Münster verantwortlich.

Sein jüngstes Projekt war eine Studie über den Essener Bischof Kardinal Hengsbach

Auch wenn ihm das Thema Missbrauchsaufarbeitung sehr am Herzen lag: Aufgeregtheit oder Empörung waren ihm dabei fremd. Mit nüchterner Klarheit und hoher Präzision analysierte er schonungslos die Mechanismen von sexuellem Missbrauch und systematischer Vertuschung, den spezifisch religiösen Geschmack in Machtbeziehungen und die Verantwortung der sogenannten Bystander – jener Mitwisser, die implizit oder explizit von den Taten wussten, aber nichts unternahmen. Sein jüngstes Projekt war die Untersuchung der Missbrauchsvorwürfe gegen den Essener Bischof Kardinal Hengsbach, sie läuft derzeit noch.

Thomas Großbölting wurde in der Nähe von Bocholt geboren. Er studierte Geschichte, katholische Theologie und Germanistik an den Universitäten in Köln und Bonn und an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. An der Universität Münster legte er das erste Staatsexamen für Lehramt ab, wurde dann bei Hans-Ulrich Thamer promoviert mit einer Studie zu „Bürgertum, Bürgerlichkeit und Entbürgerlichung in Magdeburg und Halle“.

Die Universität Hamburg spricht von einer „prägenden Persönlichkeit“

In Münster habilitierte er sich mit einer Analyse der Industrie- und Gewerbeausstellungen des 19. Jahrhunderts. Nach einer Station an der Universität Magdeburg und als Mitarbeiter bei der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen war er von 2009 bis 2020 Professor für Neuere und Neueste Geschichte in Münster. 2020 folgte er einem Ruf an die Universität Hamburg, wo er auch Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte war. Seit Ende 2022 war Großbölting auch Direktor der Akademie für Weltreligionen.

„Die Wissenschaft verliert einen brillanten Vertreter, der sein Fachgebiet, die Forschungsstelle für Zeitgeschichte und die Akademie der Weltreligionen entscheidend geprägt hat“, sagte Hamburgs Zweite Bürgermeisterin und Wissenschaftssenatorin, Katharina Fegebank (Grüne). Der Präsident der Universität Hamburg, Hauke Heekeren, nannte ihn „eine prägende Persönlichkeit“.

Auch der Bischof von Münster, Felix Genn, würdigte Großbölting: Die Studie für das Bistum Münster sei für ihn kein Forschungsprojekt wie jedes andere gewesen. „Bei jeder Begegnung mit ihm spürte ich, wie sehr das, was Priester und andere Mitarbeitende der katholischen Kirche Menschen durch sexuellen Missbrauch und seine Vertuschung angetan haben, ihn auch persönlich mitnahm, anrührte und zu Recht zornig machte.“

Großbölting war auch Mitglied der Unabhängigen Aufarbeitungskommission für das Bistum Münster, zusammen mit dem Münsteraner Kirchenrecht-Professor Thomas Schüller. Dieser nannte Großbölting eine „außergewöhnliche Forschergestalt mit einem ethischen Kompass. Im Rat der Religionen hatte er sich der Frage nach der künftigen Rolle von Religion in der Gesellschaft angenommen, eine Menschheitsfrage – seine Stimme wird fehlen.“ Thomas Großbölting hinterlässt eine Frau und vier Kinder.

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:"Seelenführung" in den Abgrund

Für Thomas Großbölting ist Missbrauch "im Katholischen und seiner jetzigen Sozialgestalt tief verankert - theologisch, moralisch und praktisch-pastoral". Damit rüttelt der Historiker, der heute seine Missbrauchsstudie für das Bistum Münster vorstellt, an den Fundamenten der Kirche.

Von Annette Zoch

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