Süddeutsche Zeitung

Tourismus:Individualisten­­­plage

Immer mehr Touristen aus aller Welt reisen in die europäischen Städte. Diese aber verkraften den Massenandrang oft nicht mehr. Ihre Bürger und Politiker müssen handeln.

Von Jochen Temsch

Wenn das Frühjahr naht, reifen die Reisepläne: Wie wäre es mit Karneval in Venedig, Mandelblüte auf Mallorca oder Ostern in Florenz? Klingt verlockend für Urlauber, nicht aber für Einheimische. Viele empfinden die Beliebtheit ihrer Heimat als Heimsuchung. Das liegt nicht nur an der ökologischen Belastung durch Abgase, Flächenfraß oder verschwendete Ressourcen. Der Besucherandrang selbst löst Unbehagen aus. Die bloße Anwesenheit von immer größeren Touristenmassen ist an vielen Orten psychologisch unerträglich geworden - auch für die Touristen selbst.

Wenn der Andrang der Urlauber zu groß wird, müssen Städte und Kommunen handeln

Wo Millionen Urlauber Strände und Städte bevölkern, sodass einer kaum mehr einen Schritt machen kann, ohne dem anderen auf die Flipflops zu steigen, fühlen sich weder Gäste noch Gastgeber wohl. Dabei geht es weniger um Benimmfragen wie den Umgang mit Betrunkenen oder Kirchenbesucherinnen im Bikini, sondern um tief greifende soziale Erschütterungen: Souvenirshops ersetzen Gemüseläden, Preise in Cafés steigen, die Mieten ziehen an. Am Ende können sich die Einheimischen das Leben in der eigenen Stadt nicht mehr leisten. Diese Touristifizierung von ganzen Vierteln erleben Bürger in Venedig, Palma und Barcelona, aber auch in Passau und Berlin.

Dass sich sehr wohl etwas gegen den Ausverkauf der Städte unternehmen lässt, macht nun Amsterdam vor. Dort dürfen keine reinen Touristenläden mehr in der Innenstadt eröffnen. Kreuzfahrtschiffe und Touristenbusse wurden aus der City verbannt, und die Möglichkeiten, private Wohnungen übers Internet als Ferienapartment anzubieten, eingeschränkt. Solch harte Maßnahmen sind geboten in einer Stadt, die am eigenen touristischen Erfolg zu ersticken droht.

In Amsterdam wie in anderen beliebten Metropolen sind die Hauptverursacher der Misere Kreuzfahrer und Urlauber, die ihre Unterkunft über private Wohnungsvermittlungen im Internet buchen. Die Schiffspassagiere verstopfen bei Landgängen die Orte, ohne den Einheimischen Geld zu bringen. Und die angeblichen Individualisten, die für kurze Zeit in Privatwohnungen einziehen, summieren sich allein in Berlin zu einer Masse von rund einer Million Touristen. Sie machen das kaputt, was sie eigentlich zu erfahren suchen: das authentische Leben im Kiez. Der oft belächelte Pauschaltourist in einer Hotelburg am Strand ist harmlos dagegen.

Die Neugier auf Land und Leute gilt als Tugend des Urlaubers - aber als angenehm wird der Besuch vom Gastgeber nur empfunden, wenn der Gast nicht dauerhaft den Alltag stört. Eine Entspannung der Lage ist nicht in Sicht. Die Nachfrage nach Kurzurlauben und Kreuzfahrten steigt, der Tourismus weltweit nimmt aufgrund des wachsenden Wohlstands in Asien und Südamerika zu, und wegen der unsicheren politischen Lage in Nordafrika und der Türkei konzentriert sich das Problem am westlichen Mittelmeer.

Immer mehr Einheimische wehren sich gegen den Massenandrang vor ihrer Haustür. Bürgerinitiativen in Palma, Menschenketten am Strand von Barcelona sind Notwehrmaßnahmen von Anwohnern, die sich von ihren Politikern im Stich gelassen fühlen. Denn Stadtverwaltungen und Regierungen verdienen über Gewerbesteuern, Touristenabgaben, Schiffsanlege-Gebühren prächtig mit an der Invasion der Urlauber. So schafft der Tourismus Tatsachen, bevor rechtliche und politische Rahmenbedingungen dafür ausgehandelt wurden.

Möglichkeiten zum Schutz der Einheimischen gäbe es durchaus. Man kann der Gewerbefreiheit Grenzen setzen wie in Amsterdam oder beim Kampf der Berliner Bezirksparlamente gegen Kneipen-Monokulturen. Weitere sinnvolle Maßnahmen sind Baustopps für Hotels, Bebauungspläne mit tourismusfreien Zonen, die Kontingentierung von Besucherzahlen in Naturräumen oder weniger Kreuzfahrtschiffe. Scharf sanktionierte Regelungen zur Zweckentfremdung privaten Wohnraums als Feriendomizil dienen dem Gemeinwohl. Das alles ist dringend notwendig. Denn wie jede Industrie treibt auch die Reise-Industrie der Wunsch nach Wachstum an, und es ist nicht zu erwarten, dass sich die Branche selbst freiwillig Grenzen auferlegt.

Es ist an der Zeit, die Einheimischen in demokratischen Prozessen einzubeziehen bei der Frage, wie der Tourismus in ihrer Stadt aussehen soll. Ein Urlaub, der den Grund für den Urlaub - nämlich die Kultur und Schönheit eines Ortes - zerstört, ist widersinnig.

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SZ vom 06.02.2018
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