Törichtes Gerede:Warum es keinen neuen Kalten Krieg gibt

Lesezeit: 4 min

Der Westen ist voller Illusionen über seinen Platz in der Welt. Gegenüber Russland sollte er sein Verhalten ändern.

John Gray

Die derzeitige Panik über Russland ist ein merkwürdiges Phänomen. Nach jedem objektiven Maßstab sind die Russen in dem autoritären Staat, den Wladimir Putin errichtet hat, freier als zu irgendeinem Zeitpunkt in der Sowjetunion. Vielen geht es auch materiell besser. Russland hat seine Expansionspolitik aufgegeben und ist heute eine kleinere Version dessen, was es immer war - ein eurasisches Imperium, dessen Hauptsorge der Schutz vor externen Bedrohungen ist. Dennoch verhält sich der Westen feindseliger als während der meisten Zeit des Kalten Krieges. Damals sahen nicht wenige Linke in der Sowjetunion, die für viele Millionen Tote verantwortlich war, ein im Grunde gütiges Regime.

Westliche Politiker sollten ihr Verhalten gegenüber dem Kreml ändern, empfiehlt John Gray. (Foto: Foto: dpa)

Um nachvollziehen zu können, wie es so weit kommen konnte, muss man den Fortschrittsglauben verstehen, der im Westen parteiübergreifend die Wahrnehmung prägt. Der sowjetische Zusammenbruch war eine Niederlage für den Kommunismus, einer prototypisch fortschrittlichen Ideologie. Die Aussicht, dass das postkommunistische Russland den Neoliberalismus annehmen würde, bestand nie. So etwas wie Putins Russland war indes vorbestimmt - doch die Rückkehr der Geschichte steht nicht im Drehbuch des Fortschritts.

Die meisten führenden westlichen Politiker sind moderne Jünger Woodrow Wilsons. Sie glauben mit religiöser Inbrunst an das, was Francis Fukuyama erst kürzlich als ,"den Marsch der Geschichte in Richtung globale Demokratie" beschrieben hat. Wohlstand führt zu Verbürgerlichung und damit zu liberalen Werten. Russland - reich, nationalistisch und autoritär wie es ist - passt nicht in dieses märchenhafte Weltbild. Die Reaktion des Westens ist eine Mischung aus Drohgebärden und wachsender Panik.

Der Westen hat nicht mehr das Sagen

Nichts ist törichter als das Gerede von einem neuen Kalten Krieg. Was wir erleben, ist das Ende der Ära nach dem Kalten Krieg und das Wiederaufflammen geopolitischer Konflikte, wie es sie im späten 19. Jahrhundert gab. Geblendet von modischem Unsinn über die Globalisierung, glauben westliche Politiker, dass sich die liberale Demokratie unaufhaltsam verbreitet. Tatsache ist: Republiken und Imperien, freie und unfreie Demokratien und eine große Vielfalt autoritärer Staatsformen werden uns vorerst erhalten bleiben.

Die Globalisierung ist nicht mehr als die fortschreitende Industrialisierung des Planeten, und der zunehmende, strategisch motivierte Rohstoff-Nationalismus ist ein wesentliches Merkmal dieses Prozesses. Indem Russland seine Rohstoffe als Waffe einsetzt, widersetzt es sich nicht der Globalisierung, sondern nutzt deren Widersprüche aus.

Es wird wieder klassische Großmachtpolitik gemacht, mit wechselnden Allianzen und Einflusssphären. Der Unterschied ist nur, dass der Westen nicht mehr das Sagen hat. Mit ihren unterschiedlichen Historien und mitunter vollkommen gegenläufigen Interessen werden Russland, China, Indien und die Golfstaaten in keiner Weise irgendeinen neuen Block bilden. Aber es sind diese Länder, die die Entwicklung der Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts bestimmen.

Die USA, die ihre bankrotten Hypothekenbanken verstaatlicht und ihre gigantische Kriegsmaschinerie letztlich durch ausländische Kreditaufnahme finanziert haben, befinden sich auf steiler Talfahrt. Seitdem sich das Finanzsystem des Westens im schlimmsten Chaos seit den dreißiger Jahren befindet, schwindet seine Fähigkeit, Ereignisse zu beeinflussen von Tag zu Tag. Der Welt zu predigen, dass die internationalen Beziehungen verrechtlicht werden müssten, ist nach dem Irakkrieg lächerlich und letztlich kaum mehr als ein nostalgischer Gedanke an die verlorene Hegemonie.

Weil der Westen voller Illusionen über seinen tatsächlichen Platz in der Welt ist, unterschätzt er die Risiken einer Einmischung in Russlands näherer Umgebung. Russlands Schwächen sind bekannt: Bevölkerungsschwund, Vetternwirtschaft und ein gekränkter Nationalstolz. Die Schwächen des Westens sind jedoch nicht weniger schlimm. Unsere politischen Führer reden ständig davon, dass die Russen uns mindestens ebenso sehr brauchen wie wir sie. In Wahrheit sind Investitionen in Russland ein Nebenprodukt der globalisierten Wirtschaft. Es wird sie so lange geben, wie sie profitabel sind.

Demokratie ist keine Garantie für eine vernünftige Außenpolitik

Russlands Energielieferungen können dagegen vom Kreml nach Belieben gedrosselt werden. Ökonomen werden sagen, dass Russland zu abhängig vom Öl sei. Aber die Ölreserven der Welt schrumpfen rapide, während der Bedarf weiter steigt. Russland profitiert von jedem internationalen Konflikt, der den Ölnachschub beeinträchtigt.

Die Geschichtsoptimisten sämtlicher unserer Parteien glauben, Russland wäre westlichen Interessen zugänglicher, wenn es nur eine echte Demokratie wäre. Aber Putin ist genau deshalb so unglaublich beliebt, weil er gegenüber dem Westen konsequent Russlands Macht ausspielt. Die Demokratie hat viele Vorteile, aber sie ist keine Garantie für eine vernünftige Außenpolitik.

Mit Ausnahme einiger Vertreter des "Alten Europa" wissen unsere führenden Politiker nicht, was sie tun. Die Effekthascherei des britischen Außenministers David Miliband und des britischen Oppositionsführers David Cameron in der Ukraine ist ein gutes Beispiel dafür. Sie ließen sich über nationale Selbstbestimmung und die territoriale Integrität von Staaten aus und bemerkten nicht, dass beides zusammen nicht zu haben ist. Selbstbestimmung bedeutet Abspaltung und Staatenzerfall.

Im Kaukasus wären weitere Kriege und ethnische Säuberungen die Folge. In der Ukraine sind die Risiken noch größer. Das Land ist tief gespalten, und im Krimhafen Sewastopol befindet sich eine bedeutende russische Marinebasis. Jeder Versuch, die Ukraine der Einflusssphäre Russlands zu entwinden, zerrisse den jungen Staat. Wer unter diesen Umständen mit Wilson'schen Begriffen von Selbstbestimmung spielt, flirtet mit dem Desaster.

Traum von Demokratie und Fortschritt wird uns nicht weiterhelfen

Damit kein falscher Eindruck entsteht: Russland ist in mancher Hinsicht ein gefährlicher Staat. Seine in den Geheimdiensten geschulten führenden Politiker sind rücksichtslose Pragmatiker, die alle Mittel einsetzen werden, um ihre Ziele zu erreichen.

Eines ihrer Ziele dürfte sein, den westlichen Einfluss auf Russlands nähere Umgebung zurückzudrängen. Ihre Strategie dabei ist, alles zu nehmen, was sie kriegen können. Unter dem Eindruck, dass sich der Westen momentan im Niedergang befindet, testen sie gerade, ob er noch eine einheitliche Strategie verfolgt, um seine Interessen zu schützen. Nach allem, was wir bislang von unseren führenden Politikern gehört haben, ist das nicht der Fall.

Ein Anfang wäre es, die Pläne für eine weitere Nato-Expansion ad acta zu legen und unmissverständlich klarzumachen, dass wir unseren bestehenden Verpflichtungen in Osteuropa und den baltischen Staaten nachkommen. Gleichzeitig muss jede Anstrengung unternommen werden, um Europas Abhängigkeit von russischen Energiereserven zu reduzieren. Der Westen muss künftig nüchterner denken und handeln. Der Traum von Demokratie und Fortschritt wird uns nicht weiterhelfen.

John Gray ist emeritierter Professor für Europäische Ideengeschichte an der London School of Economics.

Deutsch von Marc Felix Serrao

© SZ vom 12.09.2008/agl - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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