Süddeutsche Zeitung

Coronavirus:Das Tönnies-Desaster

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Mehr als 1000 Infektionen, fehlende Adressen und verlorenes Vertrauen: Nach dem Corona-Ausbruch in der Fleischfabrik lassen die Behörden ihrem Ärger über den Konzern freien Lauf. Chef Clemens Tönnies versucht die Vorwärtsverteidigung.

Von Thomas Kirchner

Thomas Kuhlbusch verbirgt seinen Ärger nicht. Schon bei der ersten Frage platzt es geradezu aus ihm heraus: "Das Vertrauen, das wir in die Firma Tönnies setzen, ist gleich Null. Das muss ich so deutlich sagen." Kuhlbusch ist Leiter des Krisenstabs im Kreis Gütersloh, der sich mit dem Corona-Skandal auf dem Gelände der Fleischfirma Tönnies in Rheda-Wiedenbrück herumschlagen muss. Und wie er es darstellt, hat sich der Konzern, der das bisher schlimmste Infektionsgeschehen Nordrhein-Westfalens verantwortet, nicht gerade kooperativ gezeigt.

Am Donnerstag hatten die Behörden alle Kräfte und sogar die Bundeswehr mobilisiert, um der Masseninfektion in dem Schlachthof Herr zu werden. Am Freitag verfügte der Kreis, dass alle rund 6500 Tönnies-Mitarbeiter am Standort Rheda-Wiedenbrück mitsamt allen Haushaltsangehörigen in Quarantäne müssen - auch die Verwaltung, das Management und die Konzernspitze.

Das Werk wird geschlossen, schon am Freitag begann man, intensiv zu testen. Mehr als 1000 Tests sind positiv. Doch wo wohnen die Infizierten, die es nun so schnell wie irgend möglich zu benachrichtigen und zu isolieren gilt? Denn wenn es nicht gelingen sollte, die Infektionskette möglichst rasch zu stoppen, droht dem Kreis und seinen Bewohnern der Rückfall in den Lockdown. Das machte Ministerpräsident Armin Laschet am Freitagabend deutlich.

Der Krisenstab, das ist zumindest die Version von Kuhlbusch, bat die Werksleitung um eine komplette Liste. Sie kam wohl am Freitag um die Mittagszeit. Doch es fehlte ein Drittel. Was folgte, war "gutes Zureden", das aber zu nichts führte. "Irgendwann sagt man so: Feierabend", poltert Kuhlbusch. Man habe sich die nötigen Befugnisse gesichert, den Werkschutz mitgenommen und sei in die Verwaltung eingedrungen. Um 1.30 Uhr in der Nacht fanden Kuhlbuschs Mitarbeiter in den vorhandenen Unterlagen schließlich die gesuchten Adressen.

Ein seltsamer Vorgang. Warum fehlten die Adressen? Waren sie nicht zu finden, oder wollte man sie nicht hergeben? Handelte es sich bei den Betroffenen überhaupt um festangestellte Mitarbeiter, oder nicht vielmehr um jene mobilen Fleischhauer-Truppen, die an mehreren Orten in Nordrhein-Westfalen gleichzeitig arbeiten und eher verstreut wohnen?

Allerdings könnte der ostentative Zorn der Behörden auch dazu dienen, eigene Versäumnisse zu übertünchen. Schließlich ist seit Langem bekannt, welch zweifelhafte Umstände in Deutschlands großen Schlachthöfen herrschen: Arbeiter, überwiegend aus Rumänien und Polen, die von Subsubunternehmen beschäftigt werden, Billigstlöhne erhalten und in Massenunterkünften hausen. Dass sich daran etwas ändern muss, kann ernsthaft niemanden überraschen.

Aber lief es denn auch wirklich so ab? Am Samstagnachmittag stellte sich Clemens Tönnies, der Patron des Konzerns, Chef des Fußballvereins Schalke 04 und Kumpel diverser Politiker auf vielerlei Ebenen, vor die Presse. Ein Statement nur, fünf Minuten, keine Nachfragen. Tönnies gab sich betont defensiv, lobte die Arbeit des Krisenstabs, heischte um Verständnis, erzählte, dass er frisch aus dem Krankenhaus komme. "Hier geht es nicht um Tönnies, sondern um den Menschen."

Der Unternehmer konzentrierte sich auf den wichtigsten Punkt: die fehlenden Adressen. Von den Mitarbeitern seien sie vorhanden gewesen und übermittelt worden. Von allen anderen, also jenen, die bei externen "Dienstleistern" beschäftigt sind, habe man sie nicht speichern dürfen. Aus Datenschutzgründen. So stehe es auch in den "Werksverträgen".

Die Dienstleister gaben die Daten also nicht her. Man habe mit dem Katastrophenstab zusammengesessen, in einer "sehr produktiven Zusammenkunft" am Abend, man habe "sachlich" gesprochen und laufend "Updates" geliefert. Es fehlten aber noch immer Daten. Tönnies bat dann offenbar um eine Verordnung, um Druck auf die Subunternehmer auszuüben. Diese habe erst am Samstagmorgen vorgelegen, danach habe man die restlichen Adressen übermittelt.

Die zwei Versionen des Geschehens passen nicht zusammen, so viel ist klar. Beide Seiten werden das aufklären müssen. Entgegen vorheriger Ankündigung ließ Tönnies doch zwei, drei Fragen zu. Nein, zurücktreten wolle er nicht, er werde dieses "Thema", wie er es mehrmals nennt, "in den Griff bekommen". Er stehe in der Verantwortung, "in erster Front". Er werde dieses Unternehmen aus der Krise führen. "Ich mache mich nicht aus dem Staub."

Und dann schiebt Clemens Tönnies, Chef des größten Fleischkonzerns des Landes, noch etwas hinterher, das die Menschen weit über Nordrhein-Westfalen hinaus interessieren dürfte: "So werden wir nicht weitermachen", sagt er mit entschlossenem Blick. "Wir werden diese Branche verändern, das steht fest."

Diese Erkenntnis sei nicht Folge der Pandemie, sagt Tönnies, er denke darüber schon lange so. "Es besteht dringender Handlungsbedarf." Es gibt jetzt viel zu tun für Clemens Tönnies.

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