Süddeutsche Zeitung

Timothy Garton Ash:In die Türkei fahren und die Wahrheit sagen

Lesezeit: 4 Min.

Wenn die westlichen Regierungen nichts gegen Erdoğan unternehmen, muss die Zivilgesellschaft einspringen. Jetzt ist die Zeit für unsere Solidarität mit den Unterdrückten in der Türkei.

Gastbeitrag von Timothy Garton Ash

Würde diese Zeitung in der Türkei erscheinen, bestünde der Rest dieses Artikels vermutlich aus weißer Fläche - abgesehen von einem Foto des Autors und, gedruckt in großen Lettern, dem Zusatz: "124 Tage ohne Freiheit". Auf diese Weise erinnert Cumhuriyet, die wichtigste der verbliebenen Oppositionszeitungen in dem Land, an ihre inhaftierten Kollegen. Dazu kommt die Anzahl der Tage, die der Betreffende nun schon im Gefängnis sitzt. Ein führender Kolumnist, Kadri Gürsel schrieb kürzlich einen bewegenden Brief, der mit den Worten beginnt: "Ich grüße euch liebevoll aus dem Silivri-Gefängnis Nummer 9, Block B, Zelle 25 ..."

Heute die Türkei zu besuchen, kommt einer Reise in die Dunkelheit gleich. Zehntausende Staatsangestellte und Tausende Professoren entlassen, so viele Journalisten hinter Gittern wie in keinem anderen Land, über allem die ständige Angst. Bei meinem jüngsten Besuch sprach ich mit Hasan Cemal. Er, einer der berühmtesten Journalisten der Türkei, wurde zu 15 Monaten auf Bewährung verurteilt für seinen Bericht über einen PKK-Führer - einem hervorragendem Stück Journalismus, das das Regime jetzt umdeutet in "Propaganda für den Terror".

Ein Türkeibesuch ähnelt einer Reise in die Dunkelheit

Jetzt wurde Cemal auch noch wegen "Beleidigung des Präsidenten" verurteilt. Was aus dem inhaftierten deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel wird, ist völlig unklar. Journalisten, die Enthüllungen über das Netz der Gülen-Bewegung veröffentlichten - sie war wirklich eine wichtige Kraft hinter dem Putschversuch im vorigen Jahr -, sitzen im Gefängnis unter dem Vorwurf, Gülenisten zu sein. Gürsel, der Kolumnist von Cumhuriyet, schreibt: "Merkwürdigerweise sind wir gerade deshalb schuldig, weil nichts gegen uns vorliegt." Kafka müsste heute leben.

Vor dem Hörsaal in der Bosporus-Universität, in dem ich auf Einladung der unabhängigen Akademie der Wissenschaften über Redefreiheit gesprochen hatte, verteilten Studenten Süßigkeiten, an denen Zettel steckten, so wie bei chinesischen Glückskeksen. Aber auf den Zetteln standen keine Prophezeiungen, sondern der Satz: "Seit Monaten wird die freie Rede an der Bosporus-Universität bedroht. Schweige nicht!" Später fragte mich ein Student aufgeregt: "Was sollen wir tun?" Ich wollte, ich hätte eine Antwort.

Türkische Wissenschaftler, Journalisten und Künstler fühlen sich von der Welt abgeschnitten

Die Methoden der neuen Generation autoritärer Politiker wie Erdoğan, Wladimir Putin und - in samtener Form - Viktor Orbán, sind inzwischen vertraut. Man kontrolliert die Medien über die Oligarchen und Firmengruppen, denen sie gehören. (Die Zeitung Hürriyet, im Besitz der Dogan-Gruppe, lehnte ein Interview mit dem Nobelpreisträger Orhan Pamuk ab, in dem dieser angekündigt hatte, bei dem Referendum über ein neues Präsidialsystem mit "Nein" zu stimmen.) Man knüpft einen Flickenteppich aus elastischen Vorschriften, nach denen man fast jedermann verfolgen kann. Man sichert die politische Kontrolle über eine eingeschüchterte Justiz. Man drückt sein eigenes nationalistisches und populistisches Narrativ in die sozialen Medien und ins Fernsehen, während man unabhängigen Medien und NGOs vorwirft, eine fünfte Kolonne im Solde des Auslands zu sein. Die Verfassungsänderung wird Erdoğan immense Macht und das Recht geben, bis 2029 Präsident zu bleiben. Faktisch regiert er schon heute wie ein Sultan.

So wie die türkischen Studenten frage ich mich: Was können wir tun? Wobei "wir" hier bedeutet: wir Europäer, der Westen insgesamt, alle Menschen mit liberalem Herz und Verstand. Trotz des immensen Drucks steht der Ausgang des Referendums um Erdoğans Verfassungsreform noch nicht fest. Umfragen zeigen eine knappe Mehrheit dafür, aber wenn man die Analogie der "heimlichen" Brexit-Wähler und "heimlichen" Trump-Wähler nimmt, dann könnte es auch heimliche Gegner der Verfassungsreform geben. Deshalb ist eine starke internationale Präsenz ebenso wichtig, wie es nationale Wahlbeobachter sind.

Haben Europäer und Amerikaner noch wirksamere Hebel? Mit einer Nostalgie, die fast wehtut, blicken meine türkischen Freunde zurück auf den Beginn dieses Jahrzehnts, als die Türkei unter einem vermeintlich "sanften" islamistischen Regime glaubte, der EU beitreten zu können und hoffte, dass die EU ihrerseits sie ernsthaft haben wollte. Das ist lange her.

Angela Merkel glaubt, zu Recht oder nicht, dass sie Erdoğan während des deutschen Wahlkampfes braucht, um die Flüchtlinge zurückzuhalten. Theresa May springt wie eine Handelsvertreterin von Trump über Erdoğan zu Indiens Narendra Modi. Und nur ein Verrückter kann darauf bauen, dass ausgerechnet Donald Trump die Werte verteidigen wird, zu denen er die wandelnde Antithese ist.

Mein Schluss ist, dass wir selbst es sind, die der anderen Türkei helfen müssen. Ich bin zwar nicht ganz hoffnungslos, aber es ist höchst unwahrscheinlich, dass die EU, die USA oder irgendeine andere Regierung den Kurs der Türkei ändern werden. Aber weniger ambitionierte Interventionen auf unterer Ebene können manchmal etwas bewirken. Es mag depriminierend sein, daran zurückdenken zu müssen, was die westliche Zivilgesellschaft seinerzeit für die Dissidenten in der Sowjetunion getan hat, aber da stehen wir heute mehr oder weniger.

Solidarisch sein mit den Unterdrückten

Daher sollten Universitäten auf der ganzen Welt sich für Wissenschaftler einsetzen, die sie kennen. Akademien sollten der unabhängen Akademie der Wissenschaften Hilfe anbieten, das Gleiche gilt für Thinktanks, Verlage und Theater. Besonders depriminierend war es in Istanbul zu hören, dass immer weniger Wissenschaftler, Schriftsteller, Journalisten und Künstler in die Türkei reisen. Die türkischen Kollegen fühlen sich daher von der Welt abgeschnitten. Wann immer es möglich ist, sollte man jetzt in die Türkei fahren, zuhören, berichten und die Wahrheit aussprechen. Eine Delegation des internationalen PEN-Zentrums hat dies kürzlich vorgemacht.

Menschenrechtsgruppen müssen Publizität für unterdrückte Kollegen und Gruppen herstellen, jeder kann sie dabei unterstützen. Für die besonders angegriffenen Medien gibt es Solidaritätsaktionen unter dem Hashtag #FreeTurkeyJournalists. Das International Press Institute hat die Website freeturkeyjournalists.com gestartet. Einzelne Zeitungen und Magazine können ihre Kollegen direkt unterstützen oder dafür sorgen, dass der Blick der Öffentlichkeit auf sie gerichtet bleibt. Wenn die Regierungen keine großen Schritte unternehmen, ist es umso wichtiger, dass die Zivilgesellschaft einspringt. Erdoğan zieht die Schrauben an. Jetzt ist die Zeit für unsere Solidarität.

Aus dem Englischen von Nikolaus Piper.

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Quelle:
SZ vom 08.03.2017
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