Timoschenko-Urteil schockiert die EU:Verloren im Osten

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Der bizarre Prozess gegen Julia Timoschenko entfremdet die Ukraine und die EU weiter voneinander. Die Politik der Union hat nicht zu einer Entscheidung pro Europa geführt. Gleichzeitig lockt Moskau mit Sirenengesang. Dort plant der Chauvinist Wladimir Putin eine Art neue Sowjetunion - und Brüssel ist ratlos.

Cathrin Kahlweit

Neulich hat der ukrainische Präsident seiner Kontrahentin Julia Timoschenko und damit auch den Europäern ein unsittliches Angebot gemacht. Es erinnerte im Grundsatz an die Behandlung von Zwangsprostituierten durch ihre Zuhälter: Erst, wenn sie ihre fiktiven "Schulden" abgearbeitet hätten, so wird den Frauen oft gedroht, dann kämen sie frei. Timoschenko, die frühere Premierministerin des Landes, stand in Kiew wegen Amtsmissbrauchs vor Gericht. Wenn seine Gegnerin, so ließ Präsident Viktor Janukowitsch wissen, ihre Schulden begleiche, könne sie freikommen. Dazu kam es nicht, die Richter in Kiew waren willfährig genug und sprachen Timoschenko schuldig. Brüssel hat das Verfahren als politische Justiz eingestuft.

Der bizarre Prozess und der begleitende Schlagabtausch zwischen der EU und der ukrainischen Regierung fanden vor dem Hintergrund komplizierter Verhandlungen statt: Eigentlich soll im Dezember das Freihandelsabkommen zwischen der EU und der Ukraine unterzeichnet werden, was Brüssel jedoch wegen des Falls Timoschenko in Frage stellt. Man hätte nun meinen können, Kiew wäre zu ein paar Demutsgesten bereit, um den Vertrag nicht zu gefährden. Stattdessen zeigt sich der ukrainische Außenminister überheblich und spricht davon, dass die EU ohne sein Land unvollständig wäre und man sich nicht "vereinnahmen" lasse - was durch das Gericht in Kiew auf zynische Weise belegt wurde. Rechtsstaatlichkeit sieht anders aus.

Welchen Platz findet Russland im Westen?

"Östliche Partnerschaft" nennt sich das politische Instrument, mit dem die EU einige Länder an ihrer östlichen Peripherie enger an sich binden will. Lange sah es so aus, als könne man sich vor Bewerbern um Gunst und Geld nicht retten, denn Europa galt nach 1989 als Sehnsuchtsregion. Die Osterweiterung war das sichtbare Ergebnis eines kollektiven Drangs nach Westen. Inzwischen aber betrachtet Brüssel mit wachsender Ratlosigkeit die zunehmend selbstbewussten Nachbarn, die sich, wie die Ukraine, gegen zu viel Nähe wehren. Das hat Gründe: Die EU verliert in der Finanzkrise, die längst eine Strukturkrise ist, an Strahlkraft. Moskau gewinnt Terrain. Und die europäische Schicksalsfrage - welchen Platz findet Russland im Westen? - wagt niemand mehr zu stellen.

Am Beispiel Weißrusslands ist das Dilemma gut zu beschreiben. Die im Programm "Östliche Partnerschaft" vereinten Länder weigerten sich, das Regime Lukaschenko und die Unterdrückung der Opposition in Minsk zu kritisieren. Da zeigte sich, wie weit entfernt Länder wie Aserbaidschan, Armenien, Georgien oder Moldawien von den gemeinsamen europäischen Werten sind. Sie haben selbst keine saubere Menschenrechtsbilanz, ihre Wahlen entsprechen nicht demokratischen Standards; sie machen nicht mal rhetorische Zugeständnisse.

Weißrussland könnte Hilfe aus dem Westen gut gebrauchen - aber nicht um den Preis demokratischer Reformen. Neun Milliarden Euro hat die EU Lukaschenko auf dem jüngsten Partnerschaftsgipfel angeboten, gleichzeitig wurden Anfang dieser Woche die Sanktionen noch einmal ausgeweitet. Doch weder Zuckerbrot noch Peitsche sind ein taugliches Mittel, um autoritäre Herrscher im Osten zu domestizieren. Minsk hat per Gesetz die Versammlungsfreiheit weiter eingeschränkt - eine Provokation. Die Politik der EU hat weder im Fall von Kiew noch von Minsk zu einer Entscheidung pro Europa geführt.

Proteste gegen Timoschenko-Urteil in Kiew
:"Schande über Janukowitsch"

Sieben Jahre Gefängnis für Julia Timoschenko: Die Anhänger der Politikerin demonstrieren mit Plakaten und Protestchören gegen das Urteil. Den friedlichen Bürgern steht ein Großaufgebot der ukrainischen Polizei gegenüber - die ihre Macht mit Gebrüll und Geprügel demonstriert.

Denn auf der anderen Seite lockt auch Moskau mit lautem Sirenengesang. Das wiedererstarkende Russland unter dem Chauvinisten Wladimir Putin bietet ebenfalls Geld; es fordert zwar ökonomische, aber keine politische Unterwerfung. Im Gegenteil: Putin will die Zollunion ausweiten und träumt sogar von einer Eurasischen Union, einer Art Wiederauflage der Sowjetunion. Das mag vorgezogener Wahlkampf sein, aber es zeigt, dass Russland sich wieder als Regionalmacht etablieren und dem kranken Europa eine neue, alte Stärke entgegensetzen will.

Nach der Verurteilung von Julia Timoschenko kam es in Kiew zu Protesten. Die Polizei griff hart durch. (Foto: REUTERS)

Zucken in Moskau noch die Großmacht-Reflexe?

Die alten Streitpunkte - die Ausweitung der Nato, der Georgien-Krieg und seine Folgen - werden zwischen West und Ost verdrängt oder ausgespart. Man belauert sich aus der Distanz. Ist Russland nun Feind oder Freund? Welchen Platz soll es in Europa einnehmen? Ist das Putin-Land fähig zur Kooperation oder zucken in Moskau noch die Großmacht-Reflexe? Der Dialog mit Moskau ist eingeschlafen, EU-Europa entwickelt keine Kreativität zur Einbindung seines wichtigsten Energielieferanten und strategisch bedeutsamen Nachbarn.

All das wirkt sich auf die Staaten Mittel- und Osteuropas aus. Sie richten sich in sicherer Äquidistanz ein und nehmen von beiden Seiten, was sie kriegen können. Eine klare Westbindung, wie sie noch in den neunziger Jahren opportun war, erscheint ihnen heute riskant. Umgekehrt zögern westliche Unternehmer mit ihrem Engagement, weil Investitionen durch eine politisch gesteuerte Justiz und Bürokratie gefährdet sind.

Die EU-Außenpolitik bleibt ratlos: Der Ukraine beispielsweise das Freihandelsabkommen zu verweigern und damit die Bindung an Russland zu fördern, wäre konsequent, aber langfristig unklug. Die Tür muss offen bleiben, auch wenn derzeit kaum jemand durchgehen mag.

© SZ vom 12.10.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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