Europäische Union:Zwei Große auf dem Absprung

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Der Niederländer Frans Timmermans will in seiner Heimat Ministerpräsident werden, die Dänin Margrethe Vestager Präsidentin der Europäischen Investitionsbank in Luxemburg. (Foto: KENZO TRIBOUILLARD/AFP)

Frans Timmermans und Margrethe Vestager wollen die EU- Kommission vorzeitig verlassen. Präsidentin Ursula von der Leyen dürfte zumindest in einem Fall nicht allzu traurig sein.

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Der Grüne Deal wird auch nach der Brüsseler Sommerpause die Europäische Union prägen. Großes Thema: Gelingt der ökologische Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft, oder verlieren die Menschen das Vertrauen in die europäische Klimapolitik? Ebenso wird der rasante digitale Fortschritt die EU weiter beschäftigen, gerade die künstliche Intelligenz braucht europäische Regeln. Und von existenzieller Bedeutung ist die Frage: Herrscht in der EU noch der freie Wettbewerb, oder bestimmen immer mehr die Staaten, wo es lang geht in der Wirtschaft?

Ganz entscheidende Weichenstellungen sind das. Umso seltsamer wirkt es, dass die dafür zuständigen Menschen in der EU-Kommission ihren Posten verlassen wollen, zehn Monate vor Ablauf ihrer Amtszeit.

Der Niederländer Frans Timmermans, verantwortlich für den Grünen Deal, ist schon so gut wie weg. Er will Ministerpräsident in seiner Heimat werden und wird aller Voraussicht nach an diesem Dienstag zum Spitzenkandidaten von Sozialdemokraten und Grünen für die Parlamentswahl im November ausgerufen. Die Dänin Margrethe Vestager wiederum, in der Kommission zuständig für Digitalisierung und Wettbewerb, will Präsidentin der Europäischen Investitionsbank werden. Die Entscheidung darüber fällt Mitte September bei einem Treffen der Finanzminister.

Duldet Kommissionspräsidentin von der Leyen keinen Star neben sich?

Jenseits von Brüssel kann vermutlich niemand die 27 Kommissionsmitglieder beim Namen nennen, aber wenn man abgesehen von Ursula von der Leyen jemanden kennt, dann die beiden: Frans Timmermans, das ist der Klimakommissar, und Margrethe Vestager, das ist die Frau, die sich so erfolgreich mit den großen US-Konzernen angelegt hat. Sie zählen zu den Großen des EU-Betriebs. Deshalb richtet sich nun der Blick auch auf die Chefin, Ursula von der Leyen, und auf ihren Führungsstil. Als "kontrolliert und kontrollierend" wird sie in der Kommission beschrieben, Teamspirit ist nicht ihre Stärke. Kann sie ihren Laden nicht zusammenhalten, duldet sie keinen Star neben sich?

Es ist wohl eher so, dass sich die Rollen von Timmermans und Vestager zuletzt verändert haben. Der russische Angriff auf die Ukraine hat die europäische Klimapolitik ebenso unter neue Vorzeichen gestellt wie die Wettbewerbspolitik. Das mag Timmermans und Vestager ermuntert haben, schon vor Ablauf ihrer Amtszeit nach neuen Aufgaben zu suchen. Und man kann annehmen, dass Ursula von der Leyen zumindest den mutmaßlichen Abschied von Frans Timmermans auch als Chance begreift.

Die Geschichte der drei ist eng miteinander verwoben. Sowohl der Sozialdemokrat Timmermans als auch die Liberale Vestager hatten bei den Europawahlen 2019 die Spitzenkandidatur für ihre Parteifamilien inne. Beide konnten sich nach der Wahl kurzzeitig Hoffnungen machen, an die Spitze der Kommission berufen zu werden. Emmanuel Macron, der französische Präsident, wollte um jeden Preis den EVP-Kandidaten Manfred Weber verhindern, am Ende fiel ihm Ursula von der Leyen ein. Er fand für die Deutsche eine Mehrheit unter den Staats- und Regierungschefs, das Europaparlament stimmte widerwillig zu. Und Ursula von der Leyen ernannte, um Frieden zu stiften, Timmermans und Vestager zu "geschäftsführenden Vizepräsidenten" für die beiden zentralen Politikfelder.

Mit seinen Naturschutzgesetze brachte Timmermans die Konservativen gegen sich auf

Frans Timmermans, 62, brachte dank seiner zupackenden Art die Klimagesetze auf den Weg und durch alle Instanzen, es war ein Paket von gigantischen Ausmaßen. Zum Feindbild der Christdemokraten und Konservativen im Europaparlament wurde er aber mit seinen Naturschutzgesetzen. Er zerstöre die europäische Landwirtschaft und nehme, angesichts der Ernteausfälle in der Ukraine, weltweite Hungersnöte in Kauf, hieß es. Zum Showdown geriet zuletzt eine Parlamentsabstimmung zum "Gesetz zur Wiederherstellung der Natur". Timmermans, ein gewiefter Machtpolitiker, feierte einen großen Sieg. Und Ursula von der Leyen sagte öffentlich kein Wort dazu.

Eine derartige Polarisierung ist wohl nicht im Sinn der Präsidentin. Von der Leyen braucht jetzt auf Timmermans Posten jemanden, der nach der Phase der großen Gesetzgebung sich um die Umsetzung der Gesetze kümmert und in der Lage ist, Konsens zu stiften - im Verhältnis zur Wirtschaft, aber auch zu ihrer eigenen Partei, der EVP. Timmermans ist dafür nicht mehr der richtige Mann.

Der Niederländer wird im Falle seiner Nominierung an diesem Dienstag entweder seine Beurlaubung beantragen oder, was wahrscheinlicher ist, sein Amt niederlegen. Wie seine Aufgaben in der Kommission verteilt werden, ist unklar. Eine Möglichkeit wäre, dass der litauische Umweltkommissar Virginijus Sinkevičius mehr Verantwortung übernimmt.

Die EU macht Industriepolitik fast französischer Prägung - das ist nicht die Welt von Vestager

Margrethe Vestager, 55, gilt als große Verfechterin des freien Wettbewerbs. Deshalb waren die Jahre seit 2019 nicht unbedingt auf sie zugeschnitten. Während der Pandemie brachte die EU die milliardenschweren Corona-Hilfen auf den Weg. Mit Russlands Angriff auf die Ukraine wurde dann deutlich, wie wenig widerstandsfähig die europäische Wirtschaft ist. Die Abhängigkeit von russischer Energie musste beendet werden, nun geht es darum, die Abhängigkeit von China zu verringern. Die EU macht deshalb, angetrieben von der Kommissionspräsidentin, Industriepolitik fast französischer Prägung. Margrethe Vestager leistete ihren Beitrag, aber ihre Welt ist das nicht.

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Die Dänin will bei der Europäischen Investitionsbank mit Sitz in Luxemburg den Deutschen Werner Hoyer als Vorsitzenden beerben. Es ist ein mächtiger Posten, verbunden mit großem Einfluss auf die Entwicklung der europäischen Wirtschaft. Was Ursula von der Leyen von der Bewerbung hält, ist nicht bekannt. Bemerkenswert kühl war aber ein Brief an Vestager gehalten, in dem sie darauf verwies, die Kommissarin müsse bis zur Entscheidung Interessenkonflikte vermeiden und dürfe für die Kandidatur keine EU-Mittel verwenden.

Margrethe Vestagers Wahl ist keine beschlossene Sache. Es gibt Gegenkandidaten, und zuletzt ließ sie das Gespür für die aktuellen europäischen Befindlichkeiten vermissen. Sie wollte die Amerikanerin Fiona Scott Morton zur ihrer Chefökonomin machen, doch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron organisierte Widerstand, und auch das Europaparlament meldete Bedenken an. Die Amerikanerin zog ihre Kandidatur zurück, es war eine schwere Niederlage für Margrethe Vestager. Ihr blieb nur der Kommentar: "Shit happens."

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