Zwischen Berlin und Erfurt spielt sich in diesen Tagen ein Kräftemessen ab, das in der jungen Geschichte der Partei BSW beispiellos ist. Auf der einen Seite steht der Landesverband Thüringen mit Katja Wolf und Steffen Schütz an der Spitze, die mit der CDU und der SPD ein Sondierungspapier ausgehandelt haben, um in Koalitionsgespräche einzutreten. Auf der anderen Seite steht der Bundesvorstand rund um Sahra Wagenknecht, der die in Thüringen ausgehandelten Ergebnisse auf eine Weise angreift, die schon einer Demütigung gleichkommt.
Ihren vorläufigen Höhepunkt fanden die Angriffe aus der BSW-Führung am Donnerstag: Nach Tagen, an denen bereits immer wieder harsche Kritik an dem Sondierungspapier laut wurde, erhöhte der Parteivorstand noch einmal den Druck. In einem Beschluss zu den Sondierungsergebnissen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen wurden die Verhandler in Thüringen dazu aufgefordert, darauf zu bestehen, dass im Rahmen der gestarteten Koalitionsgespräche „die außenpolitische Positionierung der künftigen Landesregierung konkretisiert wird und auch bei landespolitischen Themen im Koalitionsvertrag weit stärker als im aktuellen Sondierungspapier die Handschrift des BSW zu erkennen ist“. Sollten sich CDU und SPD nicht bereit zeigen, sich bei den für das BSW „wichtigen Fragen zu bewegen, sollten wir darauf verzichten, in eine gemeinsame Regierung einzutreten“, heißt es.
„Wer das nicht kapiert, wird vielleicht schnell Ministerin, ist aber in unserer Partei falsch.“
Die Kritik hatte in der BSW-Spitze seit Montag zugenommen, nachdem sich in Thüringen CDU, SPD und BSW auf eine Präambel für einen Koalitionsvertrag geeinigt hatten. Darin ist festgehalten, dass die drei Parteien verschiedene Ansichten zum Thema Waffenlieferungen an die Ukraine haben. Zudem solle es über die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen „eine breit angelegte Debatte geben“. Formulierungen, die im BSW-Bundesvorstand Ärger auslösten. Sowohl Waffenlieferungen als auch die Raketenstationierung lehnt das Bündnis klar ab.
Allen voran Sahra Wagenknecht griff den in Erfurt ausgehandelten Kompromiss an. Sie verlangt eine Formulierung wie die in Brandenburg gefundene. Dort hatten sich SPD und BSW darauf geeinigt, dass man die Stationierung von „Mittelstrecken- und Hyperschallraketen auf deutschem Boden kritisch“ sehe.
BSW-Schatzmeister Ralph Suikat und die Parlamentarische Geschäftsführerin Jessica Tatti wurden in einem Gastbeitrag auf dem Portal t-online persönlich. Dort hieß es, die Thüringer Doppelspitze, bestehend aus Katja Wolf und Steffen Schütz, gebe Positionen auf, für die das BSW gewählt worden sei. Wenn die Glaubwürdigkeit auf dem Spiel stehe, sei es besser, in die Opposition zu gehen: „Wer das nicht kapiert, wird vielleicht schnell Ministerin, ist aber in unserer Partei falsch.“ Sahra Wagenknecht sagte der Süddeutschen Zeitung: „Dass die Verhandlungsführer des BSW sich bei der Präambel so wenig durchsetzen konnten, nährt auch mit Blick auf die Landespolitik Zweifel, ob am Ende der Koalitionsgespräche ein Ergebnis stehen wird, das das BSW guten Gewissens vor seinen Wählern vertreten kann.“
„Unglaubwürdige Parteien“ gebe es „in unserem Land genug“, warnt die Parteispitze
Neben der außenpolitischen Positionierung kritisierte der Parteivorstand, dass das Thüringer Sondierungspapier auch in wichtigen Fragen wie dem sozialen Wohnungsbau, einer besseren Kontrolle des Verfassungsschutzes oder dem Erhalt von Klinikstandorten vage bleibe. Das Vorstandspapier endet mit den Worten: „Unglaubwürdige Parteien, von denen die Menschen nichts mehr erwarten, gibt es in unserem Land genug. Die Wut darüber hat nicht zuletzt die AfD stark gemacht. Wir sind nicht angetreten, den vielen politischen Enttäuschungen, die die Menschen in unserem Land schon erfahren haben, eine weitere hinzuzufügen.“
Am Freitag dann kam vom Landesvorstand des BSW in Thüringen eine Reaktion auf die anhaltenden Angriffe aus Berlin. Der Landesvorstand nehme „die Beurteilung des BSW-Bundesvorstandes hinsichtlich der Ergebnisse, die in den Sondierungsgesprächen erreicht wurden, sehr ernst“, heißt es in einer Mitteilung. „Sie bildet eine Grundlage für die Arbeit in den kommenden Tagen.“ So scheint es, dass man in Thüringen darum bemüht ist, den Streit nicht weiter eskalieren zu lassen. Der Kritik aus dem Bundesvorstand wird diplomatisch Rechnung getragen. Ziel sei es, „die im Wahlprogramm formulierten Ziele in den zukünftigen Koalitionsvertrag einzubringen“. Insbesondere gehe es um Frieden, nur er schaffe die Grundlage für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung.
In der Sache aber bleibt die Mitteilung hart: Ziel sei es, eine stabile Regierung für Thüringen auf den Weg zu bringen. In der Friedensfrage sollen die Bürgerinnen und Bürger „in einen breiten Dialog eingebunden werden“. Das entspricht der gerügten Formulierung aus dem Sondierungspapier, dass es eine „breite Debatte“ geben solle. Und auch in der Corona-Aufarbeitung kommt man den Forderungen aus der BSW-Spitze nur bedingt entgegen. Diese hatte bemängelt, dass im Sondierungspapier kein Corona-Amnestiegesetz erwähnt werde. Dazu heißt es in der Mitteilung aus Thüringen, die BSW-Fraktion habe „bereits einen Antrag für einen Corona-Untersuchungsausschuss gestellt, der in einem Amnestiegesetz münden kann“. Dass damit die Wogen tatsächlich geglättet sind, darf wohl bezweifelt werden.
Will das BSW überhaupt regieren – oder ist es nur ein Schauspiel?
Für den Politikwissenschaftler Benjamin Höhne ist klar: „Wir beobachten da gerade den ersten größeren Machtkampf im BSW.“ Sahra Wagenknecht habe sich durch das Versprechen, für Frieden einzutreten, in eine Bringschuld gebracht. „Sie weiß, dass sie an diesem Versprechen gemessen wird“, so Höhne. Würde sie nicht darauf beharren, könne sich bei ihrer Wählerschaft „schnell Unzufriedenheit einstellen, und dies wäre ein Risiko für Wagenknechts Bundestagsambitionen“.
Dennoch zeige sich jetzt in Thüringen, welche Schwierigkeiten sie habe, damit durchzukommen, sagt der Politologe. Auch, weil man in der BSW-Landesspitze diese Frage offenbar nicht so entschieden betrachte wie Wagenknecht selbst. Da aber klar gewesen sei, welches Konfliktpotenzial in Thüringen auf das BSW warte, sei „die große Frage, ob die Leitung des Bündnisses überhaupt regieren will oder wir derzeit nur ein großes Schauspiel erleben“.
Zu dieser Frage heißt es in dem vom Parteivorstand verabschiedeten Papier trotz all der vorgebrachten Kritik an den Thüringer Ergebnissen: „Es ist unser Ziel, in allen drei Ländern solide Regierungen auf den Weg zu bringen.“
Die Formulierung aus Brandenburg gefällt Wagenknecht
Während die Unterhändler aus Thüringen vom Parteivorstand angegangen werden, gab es Lob für die aus Sachsen und Brandenburg: „Wir begrüßen es, dass das BSW in Sachsen in Sondierungsgespräche eingetreten ist und im Parlament für einen Corona-Untersuchungsausschuss gestimmt hat“, heißt es in dem Beschluss. Man wünsche dem sächsischen Landesverband ähnlich gute Sondierungsergebnisse wie in Brandenburg. Diese hatte Wagenknecht mehrmals gelobt: „Der Kompromiss von Brandenburg wäre ein gutes Vorbild für die Verhandlungen in Thüringen gewesen“, sagte sie.
Unterdessen kritisierten zahlreiche Politiker den in Brandenburg ausgehandelten Kompromiss. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Michael Roth (SPD), sah darin „einen Bruch mit der Politik des Bundeskanzlers und der SPD“. Der Grünen-Vorsitzende Omid Nouripour bezeichnete es als „Kreml-Kotau-Werk“. Dies wies Wagenknecht von sich: „Wer wie der Ex-Grünen-Chef die Forderung nach Diplomatie, die von einer großen Mehrheit der Deutschen geteilt wird, als Kreml-Position diffamiert, liefert lediglich eine weitere Erklärung dafür, warum die Grünen von den Brandenburgern aus dem Landtag geworfen wurden.“
In Sachsen will unterdessen die SPD ihre Mitglieder über eine mögliche Koalition mit CDU und BSW abstimmen lassen. Der Ausgang der Befragung werde für den Landesvorstand verbindlich sein, erklärten die Landesvorsitzenden Kathrin Michel und Henning Homann. Zuletzt waren hier die Gespräche ins Stocken geraten, nachdem das BSW einem Antrag der AfD zur Einsetzung eines Corona-Untersuchungsausschusses zugestimmt hatte.
Hinweis: Dieser Text wurde am Freitag um die Reaktionen aus Thüringen erweitert und aktualisiert.