Thüringen: Vorwürfe gegen Linke:Erfurter Gruselgeschichte

Die CDU wirft Landtagsabgeordneten der Linken vor, autonome Schläger geschützt haben. Die Beschuldigten halten das für einen Versuch, sie politisch zu diskreditieren.

Corinna Nohn

Die einen stellen es so dar: Landtagsabgeordnete in Thüringen missbrauchen ihre privilegierte Stellung und Immunität, um Kriminelle zu schützen. Die anderen entgegnen: Die Sachlage wird völlig verdreht, die Fakten stimmen nicht, das ist eine politische Schmutzkampagne.

Die einen sind CDU-Vertreter im Erfurter Landtag. Die anderen sind die Abgeordneten der Linken.

Vordergründig geht es um ein Ereignis, das schon länger zurückliegt. Am Abend des 30. Oktober 2009, so viel zumindest ist sicher, pöbeln ein paar vermummte Kerle in der Erfurter Innenstadt Passanten an, besprühen Jugendliche mit Reizgas und bewerfen sie mit Bierflaschen.

Die Unbekannten flüchten in Richtung Pilse, einer kleinen Gasse um die Ecke. Dort gibt es ein Jugendzentrum, wo just an diesem Abend eine öffentliche Party stattfindet. Gastgeber: Susanne Hennig und Matthias Bärwolff, junge Abgeordnete der Linken, deren Wahlkreisbüro gleichzeitig ein offenes Jugendbüro ist. Etwa 60 Personen feiern das fünfjährige Bestehen der Einrichtung, deren Ziel es ist, Jugendliche für Politik zu begeistern.

Zwölf Streifenwagen vor dem Haus

Die Polizisten glauben, dass die Verdächtigen in das Jugendzentrum gelaufen sind, sich unter die Gäste gemischt haben. Sie umstellen das Gebäude, wollen hinein.

Man muss es sich nach Angaben von Zeugen so vorstellen: Die Polizisten - mittlerweile stehen sechs, später zwölf Streifenwagen vor dem Gebäude - verlangen Einlass, Hennig und Bärwolff fordern zuerst einen staatsanwaltlichen Beschluss. Denn wie sie selbst unterliegen auch ihre Wahlbüros der Immunität, also einem besonderen Schutz vor Strafverfolgung.

Die Polizisten und die Hausherren diskutieren, die Bereitschaftsstaatsanwältin wird mehrmals angerufen und muss sich rückversichern, es geht hin und her. Derweil bleibt das Gebäude von Polizisten umstellt, eine Flucht von Tatverdächtigen ist ausgeschlossen.

Zwar können die Polizisten am Ende, gegen 1:30 Uhr nachts, das Gebäude betreten und die Verdächtigen festnehmen - einer ist im Saal, zwei kauern auf einem Flachdach im Hinterhof. Doch nun, Monate nach dem Vorfall, geht es in Erfurt darum, was in den Stunden zuvor passiert ist, wie weit die Immunität von Abgeordneten reicht, und vor allem warum und wie das Ereignis öffentlich diskutiert wird.

Immunität soll aufgehoben werden

Denn Susanne Hennig ist wegen Beleidigung und des Verdachts der versuchten Strafvereitelung angezeigt worden, ein anderer anwesender Abgeordneter der Linken, Frank Kuschel, wegen Beleidigung und Verdachts der versuchten Nötigung. Die Staatsanwaltschaft will ermitteln und hat beantragt, die Immunität der beiden aufzuheben.

Die ganze Chose kam in Wallung, als ein Abgeordneter der CDU, Wolfgang Fiedler, eine schriftliche Anfrage zu dem Fall beim Landtag einreichte. Innenminister Peter Michael Huber (CDU) antwortete trotz laufenden Verfahrens bereitwillig. In der öffentlich zugänglichen Ausführung schreibt er: Hennig und Kuschel hätten der Polizei "in rechtswidriger Weise" den Zugang zum Gebäude verwehrt, einen Hinterausgang verschwiegen und so die Ergreifung der flüchtigen Täter erschwert. Obendrein hätten sie die anwesenden Polizisten beleidigt.

Daraufhin griff eine Lokalzeitung die Darstellung auf und behandelte das Ereignis unter dem Titel "Jagdszenen in Erfurts Altstadt". Wer den Artikel liest, muss glauben, das Wahlkreisbüro der Linken diene regelmäßig linksradikalen Schlägertrupps als Zufluchtsstätte vor der Polizei. Fraktionschef Bodo Ramelow ist erzürnt: Das sei eine Gruselgeschichte, die "hauptsächlich dem Reich der Phantasie entsprungen ist", ein typischer Versuch, die Linke zu diskreditieren.

Auch die SPD war gegen eine öffentliche Debatte

CDU-Mann Fiedler reicht die schriftliche Antwort nicht, er möchte das Thema im Landtagsplenum debattieren. Er beantragt eine Aktuelle Stunde mit der Fragestellung: "Vermeintliche versuchte Nötigung und versuchte Strafvereitelung durch Abgeordnete der Linkspartei?" Die Motivation des 58-Jährigen für diese Vorgehensweise ist fragwürdig, schließlich hatte der Innenminister die Sachlage bereits ausführlich erläutert. Für eine Stellungnahme war Fiedler bislang nicht zu erreichen.

Obwohl sich alle anderen Parteien dagegen ausgesprochen hatten, auch die mit der CDU regierende SPD, fand die Debatte Ende Februar statt. Nun existiert ein offizielles Schriftstück voller Vorwürfe gegen die Abgeordneten der Linken sowie eine im Internet abrufbare Videodokumentation der Aktuellen Stunde.

Nicht nur die Betroffenen, auch Mitglieder anderer Parteien sprechen von "Vorverurteilung" - denn der Justizausschuss hat bis heute nicht über die Aufhebung der Immunität entschieden. Gerade wird ein Rechtsgutachten erstellt, ob es überhaupt zulässig war, bei dieser Sachlage eine öffentliche Fragestunde abzuhalten; der Bericht soll Ende März vorliegen.

"Falsche Fakten"

Die beschuldigte Abgeordnete Susanne Hennig bestreitet die Vorwürfe. "Da werden nachweislich und wider besseres Wissen falsche Fakten in den Raum gestellt", sagt die 32-Jährige. So steht zum Beispiel in der Stellungnahme des Innenministers, sie habe eine Frage der Polizei nach einem möglichen Hinterausgang des Gebäudes "in wahrheitswidriger Weise verneint", dort hätten die Täter flüchten können. "Es gibt keinen geheimen Hinterausgang, das kann jeder sehen, der vorbeikommt", sagt Hennig. Das Haus habe einen Seitenausgang, "da bin ich vor den Augen der versammelten Polizei mehrmals rein- und rausgegangen".

Andere Fakten würden gänzlich verschwiegen, zum Beispiel, dass sie die ganze Zeit mit der Polizei verhandelt habe, dass diese die Staatsanwältin unzureichend informiert habe und dass sich den ganzen Abend Polizisten in Zivil unter den Partygästen befunden haben, "die hätten die Verdächtigen ja jederzeit festnehmen können".

Hennig betont: "Wir wollten keine Straftäter schützen, wir kannten diese Personen überhaupt nicht, und es ist klar, dass ein Abgeordnetenbüro kein rechtsfreier Raum ist." Sie und ihr 24 Jahre alter Parteikollege Bärwolff wollten nur, dass kein Präzedenzfall geschaffen werde, der es erlaubt, dass die Polizei ohne richterliche Genehmigung die Immunität von Wahlbüros ignorieren kann.

"Da lagern sensible Daten von Leuten, die uns vertrauen, und wir haben Kontakt zur linken Szene in Erfurt, zu Leuten, die die Polizei per se auf dem Radar hat." Für Hennig ist klar: "Hier soll ein misslungener Polizeieinsatz vertuscht werden, und der Fall wird außerdem genutzt, um die Linke in Thüringen politisch in den Schmutz zu ziehen."

Weitere Vorfälle angesprochen

Dafür spricht ihrer Ansicht nach, dass die CDU das Ereignis mit anderen Vorfällen in Verbindung gebracht hat, in denen Vertreter der Linken die Polizei behindert haben sollen. Auch Hennig sieht Parallelen zwischen ihrer Behandlung und den anderen Fällen - alles falsch dargestellt.

Beispielsweise hat Innenminister Huber in seinen schriftlichen Ausführungen auch die Abgeordnete Heidrun Sedlacik erwähnt. Ein Polizist hatte sie im August 2009 wegen Körperverletzung angezeigt. Wer sich die Bilder der 57-Jährigen auf ihrer Abgeordnetenseite anschaut, sieht eine mütterlich wirkende Frau mit kurzen lockigen Haaren; wer sie spricht, hört: "Ich weiß bis heute nicht, was man mir genau vorwirft, mein Rechtsanwalt erhält keine Einsicht in die Akten, obwohl seit Mitte Dezember meine Immunität aufgehoben ist."

Heidrun Sedlacik sagt, sie habe am 11. August 2009, kurz vor der Landtagswahl, an einer Mahnwache gegen eine NPD-Veranstaltung im thüringischen Pößneck teilgenommen. Plötzlich sei ein Plakatständer umgefallen, es habe einen Knall gegeben, der NPD-Redner sei daraufhin durch die Polizeireihen in Richtung Teilnehmer der Mahnwache gestürmt. Die NPD-Gegner seien auch losgelaufen, die Gruppen vermengten sich, "und plötzlich steht da ein grauer Typ in Zivil vor mir und sagt: 'Frau Sedlacik, jetzt haben sie mich verletzt.'"

"Man wollte mir im Wahlkampf schaden"

Am nächsten Tag habe sie aus der Zeitung erfahren, dass sie eine Strafanzeige am Hals habe. "Das war eine Provokation, den Aufruhr haben die Nazis doch selbst verursacht! Man wollte mir im Wahlkampf schaden." Doch sie hat das Direktmandat gewonnen. Nun wartet Heidrun Sedlacik auf die Ermittlungen und dass am Ende endlich klargestellt wird, "dass ich überhaupt nichts gemacht habe".

Auf eine Klärung der Vorwürfe hofft auch Susanne Hennig: "Ich würde meine Immunität selbst aufheben, wenn ich könnte, damit endlich die richtigen Fakten auf den Tisch kommen." Außerdem wartet sie auf das Ergebnis einer Dienstaufsichtsbeschwerde, die sie wegen des Verhaltens der Polizei an jenem 30. Oktober gegen die Einsatzleiterin eingereicht hat. "Kurioserweise" bekomme sie keine Auskünfte über den Fortschritt, "weil es sich um ein laufendes Verfahren handelt."

Hennig hätte sich gewünscht, dass diese Prämisse auch für ihren Fall gilt.

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