Wieder ist es im kleinen Thüringen zu einer großen Überraschung gekommen: Bodo Ramelow (Linke) will sich nicht wie geplant für eine neue Wahl des Ministerpräsidenten zur Verfügung stellen. Stattdessen hat der Ex-Regierungschef die frühere CDU-Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht als Übergangskandidatin vorgeschlagen. Am Montagabend waren die Spitzen von Linke, SPD und Grünen sowie vier Vertreter der Unionsfraktion zu einem Treffen im Erfurter Landtag zusammengekommen, um über das weitere Vorgehen in der Regierungskrise zu beraten. Entgegen früheren Ankündigungen nahm auch Ramelow an dem Treffen teil.
Im Anschluss an die Sitzung sprach Ramelow von einer "technischen Regierung" unter der Führung seiner Amtsvorgängerin. Eine solche Regierung würde bis zu möglichen Neuwahlen binnen 70 Tagen aus einem Chef der Staatskanzlei sowie Finanz- und Justizministern bestehen, damit die Handlungsfähigkeit gewährleistet sei. Er selbst werde zunächst nicht als Ministerpräsident kandidieren, bei Neuwahlen aber erneut als Spitzenkandidat seiner Partei antreten. Ramelow sprach von einem überparteilichen Weg und zitierte aus seiner Regierungserklärung vom Dezember: "Das fordert von uns allen die Bereitschaft, vertraute Pfade der Regierungsbildung zu verlassen. Politik neu zu denken und auch anders zu organisieren."
Thüringen und AKK:Sieben Tage, die die Republik erschüttern
Sie begann mit der Wahl des FDP-Politikers Kemmerich und endete mit Unklarheit in der CDU: die Chronik einer denkwürdigen Woche.
Anfang Februar war der FDP-Politiker Thomas Kemmerich vom Ministerpräsidentenamt zurückgetreten, nachdem seine Wahl mit den Stimmen der AfD zustande gekommen war. Kemmerich ist derzeit nur geschäftsführend und ohne Minister im Amt. Ramelow war von 2014 bis 2020 Ministerpräsident. Seit der Landtagswahl Ende Oktober fehlen einem rot-rot-grünen Bündnis vier Stimmen zur Mehrheit.
Ramelow und Lieberknecht haben ein gutes Verhältnis
Lieberknecht, 61, stammt aus Weimar, war von 2009 bis 2014 Regierungschefin und führte eine Koalition aus SPD und CDU. Bei der Wahl zur Ministerpräsidentin sprang Ramelow ihr nach zwei erfolglosen Wahlgängen bei und führte durch seine Kandidatur im dritten Wahlgang eine Entscheidung herbei. Nach der Landtagswahl 2014 entschieden sich die Sozialdemokraten für ein Bündnis mit der Linken und den Grünen. Lieberknecht war die erste Frau an der Spitze eines ostdeutschen Bundeslandes. Die ehemalige Pastorin war Ministerin, Fraktionschefin und Landtagspräsidentin. In dieser Zeit formte sich auch ihr gutes Verhältnis zu Bodo Ramelow, damals noch Oppositionsführer.
Thüringens Linke-Chefin Susanne Hennig-Wellsow twitterte einen Zeitplan zu Ramelows Vorstoß. Demnach soll sich Anfang März der Landtag auflösen und Neuwahlen beschließen. Danach würde die technische Landesregierung mit Lieberknecht an der Spitze eingesetzt. Anschließend soll es nach Neuwahlen zur Bildung einer neuen Regierung kommen.
Thüringens SPD-Landeschef Wolfgang Tiefensee begrüßte Ramelows Vorstoß. "Das ist ein sehr guter Vorschlag", sagte Tiefensee. "Hoher Respekt für Bodo Ramelow, dass er sich selbst zurückzieht, den Weg frei macht für eine technische Regierung."
CDU will Neuwahlen vermeiden
Die Verhandlungsgruppe der Thüringer CDU-Fraktion reagierte verhalten. "Wir glauben, dass das Wichtigste ist, dass am Ende eines Prozesses nicht die AfD stärker werden kann als sie jetzt schon ist", sagte Thüringens CDU-Vizechef Mario Voigt. Die CDU hatte bereits im Vorfeld signalisiert, dass sie kein Interesse an Neuwahlen hat. Hintergrund dürfte auch sein, dass sie laut Umfragen in der Wählergunst stark eingebüßt hat. Nun will sie über Ramelows Vorschlag in ihren Gremien reden, kündigte Voigt an.
Auch die Grünen zeigten sich zunächst nicht begeistert von Ramelows Vorstoß. Man präferiere weiterhin die Variante, "dass schnell eine handlungsfähige Regierung unter Bodo Ramelow hergestellt wird", sagte Landessprecherin Ann-Sophie Bohm-Eisenbrandt.
Die Christdemokraten hatten es bislang abgelehnt, Ramelow aktiv in das Amt des Regierungschefs mitzuwählen. Den Christdemokraten verbietet ein Bundesparteitagsbeschluss jede Form der Zusammenarbeit mit der AfD und den Linken.
Für Auflösung des Landtags sind Stimmen der CDU notwendig
Ramelow hatte zuletzt stets betont, er wolle sich erneut einer Ministerpräsidentenwahl stellen, wenn es für ihn eine absolute Mehrheit ohne AfD-Stimmen gibt - dafür sind mindestens vier Stimmen von CDU oder FDP nötig. Zugleich hatte er vorgeschlagen, dass er nach seiner Wahl den Weg für geordnete Neuwahlen frei macht - möglichst nach einer Verständigung über den Landeshaushalt für 2021, um Thüringen bis zu einer Landtagswahl handlungsfähig zu halten.
Für eine Auflösung des Thüringer Landtags sind 60 der 90 Stimmen nötig. Rot-Rot-Grün hat zusammen 42 Stimmen, die CDU 21 und die FDP fünf. Nach dem Debakel um die Wahl Kemmerichs hat die Linke laut Umfragen in der Wählergunst deutlich zugelegt, CDU und FDP sind dagegen deutlich abgesackt.
Linke, CDU, SPD und Grüne wollen am Dienstag erneut über den Vorschlag Ramelows beraten.
Am Samstag hatten in Erfurt ungeachtet des Rücktritts von Kemmerich Tausende Menschen gegen die Wahl des Regierungschefs mithilfe der AfD protestiert. Die AfD-Fraktionschefin im Bundestag, Alice Weidel, erklärte hingegen, ihre Partei sei nach der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen "zum politischen Felsen geworden, an dem die etablierten Parteien wie Nussschalen zerschellen".