Dass die demokratischen Verhältnisse in Thüringen kompliziert werden würden, war spätestens am Wahlabend absehbar. Das juristische Gezerre um den Ablauf der konstituierenden Sitzung an diesem Donnerstag hat diese Erwartung sozusagen übererfüllt: Die politischen Akteure stehen maximal verwirrt vor der Frage, wie dem neuen Parlament ein rechtssicherer Start gelingen könnte.
Denn die AfD pocht auf ihr Vorschlagsrecht als stärkste Fraktion für die Wahl des Parlamentspräsidenten, festgelegt in der bisherigen Geschäftsordnung des Landtags. Sie will die Abgeordnete Wiebke Muhsal ins Rennen schicken, die aber von den anderen Fraktionen abgelehnt wird. Auch, weil das durchaus wichtige Amt allerlei Missbrauchsmöglichkeiten für eine auf Störfeuer ausgehende Partei bietet.
CDU und BSW wollen ein Spektakel mit immer neuen AfD-Vorschlägen verhindern
Zwar bedeutet ein Vorschlagsrecht nicht, dass die Kandidatin gewählt werden muss. Die neue Präsidentin oder der Präsident muss eine Mehrheit im Landtag hinter sich versammeln, über die die AfD nicht verfügt. Um aber ein Spektakel mit immer neuen AfD-Vorschlägen zu unterbinden, haben CDU und BSW einen Antrag auf „Änderung“ der Geschäftsordnung eingebracht, um das Vorschlagsrecht der stärksten Fraktion zu streichen – und zwar, bevor der Landtag zur Wahl schreitet.
Nimmt man den Antrag wörtlich, dann dürfte der Versuch auf rechtliche Schwierigkeiten stoßen. Denn „ändern“ lässt sich eine geltende Geschäftsordnung nur, wenn sich der Landtag bereits konstituiert hat. Dafür müsste aber ein Präsident gewählt sein. Weil die geänderte Geschäftsordnung aber genau diese Wahl betrifft, wäre der Änderungsantrag ein logischer Kurzschluss.
Allerdings haben die Beteiligten nach Ansicht des Leipziger Rechtsprofessors Fabian Michl in dem Thüringer Kuddelmuddel ein fundamentales Rechtsprinzip übersehen, das für alle Parlamente am Beginn einer Legislaturperiode gilt: den Grundsatz der Diskontinuität. Gemeint ist damit, dass eine Geschäftsordnung nur so lange gilt, wie der jeweilige Landtag amtiert. Tritt der neue Landtag zusammen, dann gilt die alte Geschäftsordnung nicht mehr, vielmehr muss eine neue beschlossen werden. Denn das Parlament benötigt Regeln, nach denen es arbeitet und abstimmt – und diese Regeln kann niemand anderes beschließen als dieses frisch gewählte Parlament selbst in seiner neuen Zusammensetzung.
Man nennt dies Geschäftsordnungsautonomie: Die neuen Repräsentanten des Wahlvolks sollen nicht an die Ordnung ihrer Vorgänger gefesselt sein. Das neue Parlament müsse „ungehindert vom Einfluss des vorherigen über seine Angelegenheiten entscheiden“ können, schreibt Michl im Fachportal Verfassungsblog.
Könnte nicht einfach eine ganz neue Ordnung beschlossen werden?
Dass solche Regeln sich ändern können, hat beispielsweise der baden-württembergische Verfassungsgerichtshof im Jahr 2021 in einem Urteil über eine AfD-Klage beschrieben. „Kraft seiner Autonomie darf das Parlament auf die politischen Arbeitsbedingungen durch den Ausbau von parlamentarischen Organisationsstrukturen reagieren.“ Damals war neu festgelegt worden, dass der zur Leitung der konstituierenden Sitzung berufene Alterspräsident der Abgeordnete mit dem höchsten Dienstalter sein soll. „In der Gestaltung hat das Parlament schon im Hinblick auf seine besonderen Arbeitsbedingungen weitgehende Freiheit.“
In der Praxis hat man den Übergang von alten zu neuen Geschäftsordnungen bisher freilich kaum bemerkt, weil sie oft stillschweigend übernommen werden. Trotzdem liegt darin, formal gesehen, ein Beschluss des Parlaments, und zwar einer, der naturgemäß zu Beginn der konstituierenden Sitzung getroffen werden muss. Denn schon da wird gearbeitet und abgestimmt – es gilt, einen Landtagspräsidenten zu wählen oder eine -präsidentin.
CDU und BSW hätten nach Michls These also, wenn man ganz pingelig ist, keinen Antrag auf „Änderung“ einer alten Geschäftsordnung stellen, sondern die neu zu beschließende Ordnung einfach entsprechend umformulieren müssen. Neuer Landtag, neue Regeln. Er regt deshalb an, den Antrag kurzerhand umzuinterpretieren – als Antrag auf Beschluss einer neuen Geschäftsordnung mit geänderten Regeln.
In Thüringen gilt eine Geschäftsordnung mit falschem Etikett, sagt Jura-Professor Michl
Dass CDU und BSW gleichwohl auf einen Änderungsantrag verfielen, dürfte freilich seinen Grund in einer Thüringer Besonderheit haben, man könnte auch sagen: Kuriosität. Dort wurde nämlich 1994 ein Geschäftsordnungsgesetz beschlossen, das genau zwei Paragrafen hat. Paragraf 1 lautet: „Die Geschäftsordnung des Thüringer Landtags gilt so lange fort, bis der Landtag eine neue Geschäftsordnung beschlossen hat.“
Das klingt nun so, als sei der neue Landtag doch noch ein wenig an die Regeln des alten gebunden – sogar durch ein echtes Gesetz und nicht bloß durch eine interne Arbeitsordnung. Michl hält auch dies für eine Fehlinterpretation. In Wahrheit sei dies eine Geschäftsordnung mit falschem Etikett, ein untauglicher Versuch, den Grundsatz der Diskontinuität zu überwinden. Auch das Label „Gesetz“ könne den Landtag nicht hindern, sich eine neue, eigene Geschäftsordnung zu geben.
All diese Fragen sind juristisch umstritten. Der Start des demokratisch gewählten Parlaments wird am Ende wohl erst einmal vom Landesverfassungsgericht geprüft werden müssen.