Süddeutsche Zeitung

Landtag in Erfurt:Thüringen, Land der unbegrenzten Möglichkeiten

Lesezeit: 3 min

Die Neuwahlen sind geplatzt, das Chaos geht weiter. Nun will die AfD den Landtag in Erfurt mit einem Misstrauensvotum vorführen. Doch ihr Manöver könnte nach hinten losgehen.

Von Antonie Rietzschel, Leipzig

Der Ministerpräsident kommt spät - und weil es sich bei Thüringen um ein Bundesland handelt, das ständig politische Volten schlägt, ist man geneigt, in diese Verzögerung etwas hineinzulesen. Doch der Linken-Politiker Bodo Ramelow beruhigt die Journalisten. Es lag an einem längeren Vortrag des Corona-Beirats, dass sich die Kabinettssitzung in die Länge zog. Und an der Diskussion über die Überschwemmungen im Westen Deutschlands. "Die Frage war, welche Konsequenzen wir aus den Naturkatastrophen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz ziehen." Es klingt, als wolle Ramelow klarmachen, dass es jetzt größere Herausforderungen gibt als das politische Gezerre im Land um Neuwahlen.

Im Herbst hätten die Thüringer eigentlich über ein neues Parlament abstimmen sollen. Der 26. September stand als Datum schon fest, doch Grüne und Linke haben ihren Antrag zur Auflösung des Landtags zurückgezogen, weil aus ihrer Sicht die nötige Zweidrittelmehrheit nicht zustande gekommen wäre. Die CDU konnte nur 17 der 21 Stimmen ihrer Fraktion versprechen, woraufhin bei den Linken zwei Abgeordnete ihre Zustimmung versagten - und auch der rot-rot-grüne Block von 42 auf 40 Stimmen schrumpfte. Die FDP kündigte an, sich enthalten zu wollen, nur ein Mitglied der Fraktion wollte für die Auflösung stimmen.

42-2+17+1 - nach Adam Riese ergab das 58 und nicht die 60 Stimmen, die es gebraucht hätte. Kurz vor der geplanten Abstimmung stürzte dann auch noch eine Linken-Abgeordnete, sie liegt in einem Krankenhaus im Erzgebirge. "Es wäre gut und richtig gewesen, dass es zur Landtagswahl kommt", sagt Ramelow - aber er hätte es nicht vertretbar gefunden, die Parteikollegin mit Krankenwagen und Notarzt aus Sachsen herbeischaffen zu lassen.

Die Wahl Kemmerichs als Warnung

Tatsächlich ging es besonders Linken und Grünen darum, nicht auf Stimmen der AfD angewiesen zu sein. Beide Parteien fürchteten eine ähnliche Situation wie am 5. Februar 2020. Damals hatte sich der FDP-Politiker Thomas Kemmerich mithilfe der Stimmen von CDU und AfD zum Ministerpräsidenten wählen lassen. Ein Tabubruch, der das Land in eine tiefe politische Krise führte. Nach dem Rücktritt Kemmerichs wurde zwar Ramelow zum Ministerpräsidenten gewählt, doch seine rot-rot-grüne Minderheitsregierung war auf einen Stabilitätspakt mit der CDU angewiesen.

Man wolle sich nicht am "Gängelband der AfD durchs Parlament schleifen" lassen, so begründeten die Fraktionsspitzen von Linken und Grünen vergangene Woche den Rückzug des Antrags. Nicht nur die Wahl eines Ministerpräsidenten, auch die Auflösung des Landtags, um demokratische Wahlen zu ermöglichen, wäre aus ihrer Sicht durch Stimmen der AfD diskreditiert.

Die AfD hat nun ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Bodo Ramelow beantragt. Fraktionschef Björn Höcke wird sich am kommenden Freitag im Landtag als Ministerpräsident zur Wahl stellen. In Thüringen ist nichts sicher, aber eine Vorhersage lässt sich wohl treffen: Höcke wird die nötigen 46 Stimmen nicht zusammenbekommen und Ramelow im Amt bleiben. Das weiß Höcke. Seine Partei will im Erfurter Landtag einen neuerlichen Eklat provozieren - und dafür reicht schon die Stimme eines Abgeordneten der CDU oder der FDP.

CDU und FDP wollen sich nicht auf das "durchschaubare Spiel" der AfD einlassen

Doch in dem Versuch der AfD, die parlamentarische Demokratie lächerlich zu machen, liegt auch eine Chance. Die Spitzen von CDU und FDP haben bereits klargemacht, dass sich ihre Parteien nicht auf das "durchschaubare Spiel" einlassen werden. Sollten sich bei der Abstimmung tatsächlich keine weiteren zu den 22 AfD-Stimmen für Höcke gesellen, wäre das ein Vertrauensbeweis, auf dem Linke, SPD, Grüne, CDU und FDP aufbauen können.

Nach den geplatzten Neuwahlen ist die rot-rot-grüne Minderheitsregierung auf Stimmen aus den anderen Fraktionen angewiesen, um politische Vorhaben umzusetzen. Die Corona-Pandemie ist noch nicht vorüber, gegen Ende des Jahres stehen wieder Haushaltsverhandlungen an. Die FDP hat bereits angekündigt, sich "konstruktiv in die parlamentarische Arbeit einbringen" zu wollen.

Aus der CDU fehlt derzeit noch eine solche Zusage. Deren Fraktionschef Mario Voigt klingt seit Tagen wie jemand, der sich noch nicht an den Gedanken gewöhnt hat, dass er nicht mehr Spitzenkandidat seiner Partei ist, der Wahlkampf erst mal ausfällt. Auf Twitter warf er der Linken zuletzt vor, einen "Stillstand für Thüringen" zu riskieren. Einer Verlängerung des Stabilitätspakts erteilte er eine Absage: "Wir sind nicht dazu da, im Landtag einer Linken Minderheit Mehrheiten zu beschaffen", twitterte Voigt.

Einige seiner Fraktionskollegen begegnen der neuen Realität mit mehr Pragmatismus. "Ich sehe die Situation nicht so kritisch", sagt Raymond Walk, der in der CDU für innenpolitische und kommunale Themen zuständig ist. Er kann den vergangenen anderthalb Jahren durchaus Positives abgewinnen. Bis 2025 sollen in Thüringen bis zu 300 neue Polizeianwärter eingestellt werden, was ohne das Zutun der CDU nicht möglich gewesen wäre, so Walk. Er hat auch schon konkrete Themen ausgemacht, über die er gerne künftig verhandeln möchte, etwa die Einführung von Bodycams oder die weitere finanzielle Stärkung der Kommunen.

"Es macht jetzt keinen Sinn, sich die Wunden zu lecken", sagt auch die CDU-Abgeordnete Beate Meißner. "Wir müssen nach vorn schauen." Vielleicht hilft ja auch die bevorstehende Sommerpause, das eine oder andere aufgeregte Gemüt zu beruhigen.

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