FDP nach Thüringen:Die Angst ist zurück

Lindner FDP Thüringen

FDP-Chef Christian Lindner am Donnerstag in Erfurt.

(Foto: Martin Schutt/dpa)

Nachdem ihr Thüringer Landeschef der AfD die Hand gereicht hat, fürchten nicht wenige Liberale erneut um die Existenz der Partei. Christian Lindner greift zum letzten Mittel

Von Daniel Brössler, Berlin

Sie haben die Welle nicht kommen sehen. Die Fraktionssitzung vergangene Woche verlief ganz normal, und wenn FDP-Abgeordnete nun schildern sollen, was da gelaufen ist, dann müssen sie ein bisschen in der Erinnerung kramen. Fraktionschef Christian Lindner machte sein übliches Eingangsstatement, und danach hatte keiner das Gefühl, gerade vor einer möglichen Katastrophe gewarnt worden zu sein. Lindner berichtete über die Lage in Thüringen und ventilierte eher im Scherz die Möglichkeit, die FDP könne demnächst in einem Bundesland den Ministerpräsidenten stellen. Für die meisten klang das absurd; die FDP hatte in Thüringen schließlich gerade so die Fünf-Prozent-Hürde übersprungen. Aber Lindner meinte es wohl ernst und machte auch klar, dass ein FDP-Mann sich nicht mit Stimmen der AfD wählen lassen könne. In der Fraktion verstanden das viele so, dass die Lage im Griff ist. Dass Lindner sie im Griff hat. Ein Irrtum.

Vielleicht hätten die Abgeordneten genauer hinhören sollen, als ihr Kollege Gerald Ullrich das Wort ergriff. Der Thüringer, von Beruf Elektronik-Ingenieur, gilt in der Fraktion nicht als Meister des bündigen politischen Arguments, und so ging in längeren Ausführungen sein Hinweis unter, dass das eine Sache sei, über die in Thüringen entschieden werde. Niemand verließ die Fraktionssitzung mit dem Gefühl, dass nur eine gute Woche später eine Welle ungeheuren Ausmaßes über ihrer Partei zusammenschlagen würde. Und dass der eben noch unangefochtene Parteichef die Vertrauensfrage würde stellen müssen.

Innerhalb nur weniger Stunden aber versetzt das Drama von Erfurt die Partei in eine seit den Tagen der Chefs Guido Westerwelle und Philipp Rösler nicht gekannte Aufruhr. Was eigentlich schon klar ist, als Wolfgang Kubicki, der Bundestags-Vizepräsident, Thomas Kemmerich noch zu seinem "großartigen Erfolg" der Wahl zum Ministerpräsidenten gratuliert. Später werden sich etliche über den Mangel an politischem Überblick des erfahrenen FDP-Mannes wundern. Schon am Abend der Abstimmung in Thüringen jedenfalls ist das Ausmaß der Katastrophe aus dem Fenster des Hans-Dietrich-Genscher-Hauses, der FDP-Zentrale in Berlin-Mitte, zu betrachten. Hunderte Demonstranten haben sich versammelt.

"Business as usual: Heuss stimmte für Hitler. FDP bringt AfD in die Regierung", hat ein älterer Herr auf ein Plakat geschrieben. Das ist zwar nicht ganz präzise, denn es war die AfD, die die FDP in die Regierung gebracht hat. Und was den ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss betrifft, so hatte er tatsächlich 1933 im Reichstag für das Ermächtigungsgesetz gestimmt, setzte sich aber nach dem Krieg mit dem Nationalsozialismus auseinander. Andere brachten ihre braune Gesinnung allerdings mit in die Partei. Mancherorts war sie in den Fünfzigerjahren ein Hort alter Nazis. Alles das, auch die Experimente des Jürgen Möllemann mit dem Antisemitismus Jahrzehnte später, kommt nun wieder hoch. Der Handschlag ihres Parteifreundes Kemmerich mit dem rechtsextremen Björn Höcke versetzt vielen in der Partei einen Schock.

"Das Bild eines Handschlages mit Björn Höcke darf und wird niemals das Bild meiner Partei sein", sagt der FDP-Abgeordnete Johannes Vogel fast flehentlich. Er gehört zur Truppe junger, sozialliberal orientierter Fraktionskollegen. Die Nachrichten aus Erfurt haben ihn auf Dienstreise in Washington ereilt. Er hat lange Telefonate hinter sich. Die Lage in der Partei ist dramatisch, teils befindet sie sich in einer Art Belagerungszustand. An die Mauer der FDP-Kreisgeschäftsstelle in Göttingen-Osterrode hat jemand mit roter Farbe das Wort "Verräter" gepinselt, mehrere FDP-Abgeordnete landen auf Listen der Antifa. "Halten die neuen Mitglieder das aus?", fragt sich der Abgeordnete Konstantin Kuhle. "Jeder, der am Samstag einen Infostand macht, wird wenig Spaß haben", sagt der Bundestagsabgeordnete Lukas Köhler voraus. Er ist im Münchner Wahlkampf unterwegs und macht sich größte Sorgen.

Es ist tatsächlich eine existenzielle Angst, die sich einer Partei bemächtigt, die noch 2017 mit der triumphalen Rückkehr in den Bundestag ihre Wiedergeburt gefeiert hatte. Nun herrscht in den Landesverbänden Alarm. Vielerorts gibt es Krisensitzungen. Mehrere Verbände fordern den Rücktritt Kemmerichs und Neuwahlen. "Es kann keinen liberalen Ministerpräsidenten geben, der von der AfD ins Amt gewählt wird", erklärt der Chef des mächtigen Landesverbandes Nordrhein-Westfalen, Joachim Stamp. Auch wenn er Kemmerich glaube, "dass es keine Absprache mit der AfD gegeben hat, hätte er die Wahl nicht annehmen dürfen", stellt er fest. Die FDP-Abgeordnete Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die in Düsseldorf für das Amt der Oberbürgermeisterin kandidiert, sagt: "Manchmal ist es besser, nicht zu regieren als falsch zu regieren." Und in der Tat sei dies "besser, als von Björn Höcke gewählt zu werden, einem Faschisten".

Der Ärger über Kemmerich ist riesig in der Partei, auch weil verheerende Folgen für die Bürgerschaftswahl in Hamburg in wenigen Wochen befürchtet werden. "Das haben die Hamburger Wahlkämpfer nicht verdient", sagt Johannes Vogel, "dass von Thüringen aus nun zu Unrecht Zweifel gesät wurden an der Verortung der FDP in der modernen Mitte." Die Hamburger Spitzenkandidatin Anna von Treuenfels veröffentlicht mit der Landesvorsitzenden Katja Suding eine Erklärung: "Es gibt keine wie auch immer geartete Zusammenarbeit der FDP mit der AfD. Jetzt nicht und auch in Zukunft nicht. Wir stellen uns entschieden gegen Ziele und Werte dieser Partei - in Hamburg und im Bund."

Die entscheidende Frage bleibt offen: Gab es etwas wie grünes Licht von Lindner?

Es ist ein Satz, der infrage steht, solange in Thüringen ein mit AfD-Stimmen gewählter FDP-Mann als Ministerpräsident amtiert. Als sich Christian Lindner am Morgen auf den Weg nach Erfurt macht, weiß er das. Es ist ihm klar, dass seine Zukunft als Parteivorsitzender sich an diesem Tag entscheidet. Den schwarzen Peter hat er spätestens, seitdem CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer im ZDF offenbarte, sie habe den FDP-Chef gebeten, Kemmerich von einer Kandidatur abzubringen. Damit sei dieser aber bei seinen Parteifreunden in Thüringen nicht durchgedrungen. Lindner fährt nun mit dem Vorsatz, Kemmerich vor die Wahl zu stellen: Entweder der Thüringer zieht zurück, oder er, Lindner, legt den Parteivorsitz nieder. "Die FDP verhandelt und kooperiert nicht mit der AfD. Es gibt keine Basis für eine Zusammenarbeit. Wir unterstützen die Ziele und Werte dieser Partei nicht", hatte er am Mittwoch sichtlich angeschlagen im Genscher-Haus verkündet, Neuwahlen aber zunächst nur für den Fall ins Spiel gebracht, dass sich Union, SPD und Grüne "einer Kooperation mit der neuen Regierung fundamental verweigern". Etlichen in der Partei war das zu lau. Sie erwarteten, dass Lindner Kemmerich zur Raison bringt.

Als dieser überhaupt erst zweite FDP-Ministerpräsident in der Geschichte der Bundesrepublik am frühen Nachmittag eine Erklärung abgibt, wird klar, dass Lindners Mission geglückt ist. Noch am Morgen hatte Kemmerich auf dem Verbleib im Amt bestanden. Nun sagt er, er wolle Neuwahlen herbeiführen, "um den Makel der Unterstützung der AfD vom Amt des Ministerpräsidenten zu nehmen". Demokraten bräuchten demokratische Mehrheiten. "Gezwungen hat uns niemand", behauptet der 54-Jährige. Auf den Bundesvorsitzenden kommt Kemmerich von sich aus gar nicht zu sprechen. "Wir standen in den letzten Tagen immer in Kontakt mit Herrn Lindner", sagt Kemmerich erst auf Nachfrage. Und: "Die Entscheidung, wie wir verfahren, hat der Verband in Thüringen selber getroffen."

Damit bleibt eine entscheidende Frage offen. Gab es so etwas wie grünes Licht von Lindner? Hat der Vorsitzende die Wahl seines Parteifreundes mit den Stimmen der rechtsradikalen Thüringer AfD billigend in Kauf genommen? Lindner will diese Behauptung bei einem Auftritt in einem Erfurter Hotel unbedingt aus der Welt schaffen. Kemmerich habe ihm seine Kandidatur stets als "Symbol für die politische Mitte jenseits von AfD und Linkspartei" erklärt, sagt er. Zu keinem Zeitpunkt sei für ihn "erkennbar beabsichtigt" gewesen, ein Amt zu erreichen. "Ich würde mein Amt als Parteivorsitzender nicht fortsetzen können, wenn eine Gliederung, auch nur eine regionale Gliederung der Freien Demokraten, systematisch eine Zusammenarbeit mit der AfD anstrebt oder eine Abhängigkeit auch nur in Kauf nimmt", sagt er noch. Damit soll klar sein, was er in die Waagschale geworfen hat.

Lindner weiß aber auch, dass das nicht reicht, um für Ruhe zu sorgen. Es sei eine Lage entstanden, "in der auch die Bundesparteiführung der FDP neu legitimiert werden muss", sagt er. Ein "Weiter so" könne es nicht geben. Und so kündigt Lindner die Vertrauensfrage an. Am Freitag soll der Parteivorstand sie in einer Sondersitzung beantworten. Die Welle wäre dann erst einmal überstanden - für Lindner.

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