Süddeutsche Zeitung

Thüringen:Ein Jahr nach dem Blumenstrauß

Vor einem Jahr wählten CDU und FDP den Liberalen Kemmerich zum Ministerpräsidenten - gemeinsam mit der AfD. Der Tabubruch erschütterte die Republik. An den Kräfteverhältnissen im Land hat er erstaunlich wenig geändert.

Von Antonie Rietzschel, Leipzig

Als Spitzenkandidat, der sich in der Anfangsphase des Wahlkampfs befindet, darf man eigentlich nie zufrieden sein. Im Falle von Mario Voigt, der in diesem Jahr die Thüringer CDU anführt, wäre sogar Sorge angebracht. Denn die Christdemokraten, die 24 Jahre regierten, liegen Umfragen zufolge bei 22 Prozent, weit abgeschlagen hinter der Linken und gleichauf mit der AfD. Doch Mario Voigt sagt: "Ich hätte vor ein paar Monaten nicht geglaubt, dass wir mal so dastehen." Er meint: So gut. Gemessen an dem politischen Schaden, den seine Partei angerichtet hat, mag er sogar recht haben.

Genau ein Jahr ist es her, dass sich in Erfurt der Landtag versammelte, um den Linken-Politiker Bodo Ramelow erneut zum Ministerpräsidenten zu wählen. Zwar fehlte seinem rot-rot-grünen Bündnis die absolute Mehrheit für die ersten beiden Wahlgänge. Doch ein Sieg beim dritten Versuch, mit einfacher Mehrheit, schien sicher zu sein. Der Kandidat der AfD, der damalige Bürgermeister im kleinen Örtchen Sundhausen, Christoph Kindervater, hatte keine Chance.

Es geschah am 5. Februar 2020 um 13.26 Uhr

Doch dann trat auch der Fraktionschef der FDP, Thomas Kemmerich, gegen Ramelow an. Die AfD schwenkte um, ebenso die CDU, deren Abgeordnete sich bis dahin enthalten hatten. Und so hieß der Sieger am 5. Februar 2020 um 13.26 Uhr nicht Bodo Ramelow, sondern Thomas Kemmerich.

Auf ihren Plätzen johlten die AfDler vor Begeisterung über den von ihnen provozierten Tabubruch: Indem die CDU gemeinsam mit der AfD stimmte, verstieß sie gegen den Unvereinbarkeitsbeschluss der Bundespartei, der eigentlich eine Zusammenarbeit mit Linken, aber eben auch mit der AfD unmöglich machen soll. Der Einzige, der die CDU und Kemmerich in diesem Moment retten hätte können, war - Thomas Kemmerich. Indem er ablehnte. Doch stattdessen erhob er sich von seinem Platz, knöpfte sein Jackett zu und sagte: "Ich nehme die Wahl an." Bei der sich anschließenden obligatorischen Gratulationsrunde warf ihm die Fraktionschefin der Linken, Susanne Hennig-Wellsow, einen Blumenstrauß vor die Füße.

"Einen Fehler", nennt Mario Voigt das Vorgehen der CDU heute. Niemand habe damit gerechnet, dass die AfD ihren eigenen Kandidaten fallen lässt. Es klingt so, als seien er und seine Partei vor einem Jahr in eine Falle gestolpert. Dabei gab es Hinweise darauf, dass die AfD genau so agieren würde. Mario Voigts Vorgänger und Konkurrent, Mike Mohring hatte das Kemmerich-Szenario einen Tag vor der Ministerpräsidentenwahl mit Fraktion und Landesvorstand durchgespielt. Das berichten später mehrere CDU-Abgeordnete. "Ist das jedem bewusst?", soll Mohring gefragt haben. Und: "Bleibt ihr trotzdem dabei?"

Sie blieben dabei.

Auch nach der Ministerpräsidentenwahl, als in ganz Deutschland Menschen auf die Straße gingen, Bundeskanzlerin Angela Merkel von einem "unverzeihlichen Vorgang" sprach, verteidigten einzelne Landtagsabgeordnete der Thüringer CDU trotzig ihre Entscheidung. Man habe im Wahlkampf versprochen, Rot-Rot-Grün zu verhindern und es auch getan, indem man den Kandidaten der Mitte gewählt habe, so die Argumentation. Und die in Berlin sollten mal die Luft anhalten.

Dann folgte Rücktritt auf Rücktritt

Als Thomas Kemmerich nach nicht mal 24 Stunden seinen Rücktritt erklärte, reiste die CDU-Bundesvorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer nach Erfurt, um zu retten, was zu retten war. Sie traf jedoch auf eine Fraktion, die sich nichts von ihr vorschreiben lassen wollte. Kramp-Karrenbauer scheiterte mit ihrer Forderung nach Neuwahlen. Müde und beschädigt verließ sie Erfurt. Wenige Tage später kündigte sie ihren Rückzug an.

Nach der offenen Revolte einiger Thüringer Landtagsabgeordneter musste auch Mike Mohring gehen. Er gab sein Amt als Fraktionschef auf, später auch den Landesvorsitz. Innerhalb der CDU gilt er heute als Hauptschuldiger für die Misere der Partei. Mohring war Spitzenkandidat, als die CDU bei der Landtagswahl 2019 abschmierte. Die klare Ansage aus Berlin, Kemmerich nicht zu unterstützen, soll Mohring nicht weitergegeben haben.

Auch wenn es Voigt war, der den FDP-Politiker Kemmerich überhaupt erst zur Kandidatur ermuntert hatte, so steht der Fraktionschef jetzt für den Neuanfang der CDU in Thüringen. Gemeinsam mit Grünen, Linken und SPD handelten er und seine Partei einen "Stabilitätsmechanismus" aus, der Rot-Rot-Grün unter Führung von Bodo Ramelows doch noch möglich machte. Die Landesregierung musste jedoch jede Initiative mit der CDU besprechen. Diese Art von Nichtangriffspakt sollte für die Dauer der Haushalts-Verhandlungen gelten.

Der Wahlkampf beginnt, und einer spielt Candy Crush

Der Haushalt wurde im Dezember vergangenes Jahr verabschiedet. Und die Kritik der CDU an Rot-Rot-Grün und insbesondere an Ministerpräsident Bodo Ramelow wird seitdem lauter. Zu lasch seien die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, findet die CDU. Seitdem Ramelow bei einem Auftritt auf der Social-Media-App Clubhouse ausplauderte, er spiele während der Ministerpräsidentenkonferenz Candy Crush, sprechen CDU-Landtagsabgeordnete gerne über das Daddel-Verhalten des Linken-Politikers. So auch am Mittwoch, als im Landtag ein Tagesordnungspunkt der CDU aufgerufen wurde. Eine Diskussion zum Thema "Zickzackkurs, Impfen und Schule - sind die 'bitteren Fehler' im Pandemiemanagement der Thüringer Landesregierung eine Gefahr für den Freistaat?".

Es sind die Anzeichen eines beginnenden Wahlkampfs. Eigentlich hätte Thüringen im April einen neuen Landtag wählen sollen. Doch aufgrund der Pandemie fällt der Termin jetzt mit der Bundestagswahl im Herbst zusammen. Bewahrheiten sich die aktuellen Prognosen, dann könnte das Land anschließend vor den gleichen Problemen stehen, die die Regierungskrise vor einem Jahr erst ausgelöst haben. Eine starke AfD, eine starke Linke - aber keine Mehrheit für Rot-Rot-Grün und schon gar nicht für eine Koalition aus FDP, CDU und SPD. Eine Zusammenarbeit mit der AfD schließt Mario Voigt rigoros aus. Die Verhältnisse in Thüringen, sie bleiben schwierig.

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