Süddeutsche Zeitung

Thüringen:Das schlimme Jahr

Nach der verlorenen Wahl, Führungsstreitigkeiten und dem Tabubruch: Christian Hirte will Thüringens CDU "zusammenbinden".

Von Ulrike Nimz, Leipzig

Christian Hirte hat sich einen Bart wachsen lassen. Das machen Politiker manchmal, wenn sie zeigen wollen, dass sie in Zeiten medialer Abstinenz gereift sind, vielleicht sogar geläutert. Als am 5. Februar der FDP-Mann Thomas Kemmerich mit Stimmen von CDU und AfD zum Ministerpräsidenten Thüringens gewählt worden war, gratulierte Hirte dem "Kandidaten der Mitte". Die Kanzlerin sah das dezidiert anders. Kemmerich war dann nur kurz im Amt und Hirte nicht länger Ostbeauftragter der Bundesregierung. Er habe einer "Anregung" Angela Merkels folgend, um Entlassung gebeten, formuliert der Geschasste es bis heute. So als hätte die Kanzlerin ihm Feuerland als Urlaubsziel empfohlen. Seinen Glückwunsch-Tweet hat er nie gelöscht.

Nun steht Christian Hirte, 44, hinter einem Rednerpult in der Erfurter Messe und spricht von Neuanfang und Geschlossenheit. Seit dem Rückzug Mike Mohrings führt er Thüringens Christdemokraten kommissarisch. "Das letzte Jahr war ein schlimmes", beginnt Hirte, und zumindest darüber herrscht Einigkeit unter den Delegierten. Hinter der einstigen Regierungspartei liegen eine krachend verlorene Landtagswahl, Führungsstreitigkeiten und ein Tabubruch, dessen Folgen bis Berlin zu spüren waren, wo Hirte seit zwölf Jahren im Bundestag sitzt, vorerst auch sitzen bleiben will. Ob er seine Partei im kommenden Jahr als Spitzenkandidat in die Landtagswahl führen wird, lässt er offen. Einige in der CDU legen ihm das als Zaudern aus.

Als Kind träumte Hirte davon, Kosmonaut zu werden. Seine Parteikarriere aber ist von ausgewiesener Bodenständigkeit. 1993 trat er in die Junge Union ein, zwei Jahre später in die CDU; es folgten diverse Landesämter. 2008 rückte Hirte, inzwischen Jurist und Wirtschaftsrechtler, in den Bundestag nach. Im Jahr darauf gewann er das Direktmandat, hat es seitdem verteidigt. 2017 wurde Hirte Beauftragter der Bundesregierung für die neuen Länder. Er erzählt gern vom Bauernhof seiner Großeltern, 50 Meter vom Sperrzaun der innerdeutschen Grenze entfernt. Wie er sich, als einziger Katholik der Jahrgangsstufe, für den Glauben habe rechtfertigen müssen. Helmut Kohl nennt er ein Idol. Und doch blieb er als "Anwalt der Ostdeutschen" blass, lobte die sanierten Innenstädte, die saubere Umwelt, die solide Wirtschaft - und klang dabei oft wie der Onkel aus dem Westen, der nichts mehr hören will von ungleichen Löhnen, fehlenden Führungspositionen, Demokratieverdruss.

Auch in Erfurt meidet Hirte unangenehme Wahrheiten, spricht stattdessen über "die Situation", in die man nach der Kemmerich-Wahl "geraten" sei. Das Hauptproblem sei nicht etwa das Abstimmungsverhalten oder Twitter-Gratulationen gewesen, sondern die "Lockerungsübungen" seiner Partei nach links und rechts. Routiniert beschwört Hirte die sogenannte politische Mitte, rügt die vermeintlichen Ränder. Das Wort "Fehler" benutzen andere. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) etwa, der als energischer Gastredner auftritt. Oder eben Mike Mohring, der zum Abschied einen Wanderrucksack geschenkt bekommt, den er beiläufig in die Ecke pfeffert, um doch noch einmal ans Mikro zu treten. Mohring will 2021 in den Bundestag. Dass er für sein Comeback einem altgedienten Abgeordneten den Wahlkreis streitig macht, sorgt für neuen Zank.

Während Machtwillen, Talent und Skrupellosigkeit Mohring einen Glamour verliehen, wie man ihn von Profizockern kennt, wirkt Hirte auf der Bühne wie ein Versicherungsvertreter mit Spezialgebiet Risikominimierung. Man müsse nun "die Partei zusammenbinden", sagt er. Und die Unfreiwilligkeit, die da mitschwingt, zeigt sich auch im Wahlergebnis. Knapp 68 Prozent der Mitglieder sprechen sich für den neuen Landeschef aus. Einen Gegenkandidaten gibt es nicht. "Ich werde hart daran arbeiten, auch noch die anderen zu überzeugen", sagt Christian Hirte. Er bekommt höflichen Applaus.

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Quelle:
SZ vom 21.09.2020
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