Man wüsste ja zu gerne, wie diese "selbstbewussten Unternehmensführer" hießen, über die er schreibt. Sie konnten "eine Frage der Bundeskanzlerin nicht beantworten, weil sie nicht Teil der vorbereiteten Unterlagen war", sie wurden dann "plötzlich unsicher und fahrig". Oder welche Kabinettskollegen er hier meint: "lautstark und polemisch in der Sprache", aber Pressekonferenzen schon deshalb scheuend, "weil sie wussten, dass sie da nicht bestehen können". Und wer mag wohl der "bedeutende Journalist" gewesen sein, der ihm gebeichtet habe, "dass er seine Kommentare nicht für die normalen Zeitungsleser, sondern eigentlich für uns Politiker schreibt". Tsss, solche Leute gibt's?
Seit knapp einem Jahr ist Thomas de Maizière kein Minister mehr. Zur "Wiederankunft" im normalen Leben, wie er selber sagt, legt er nun ein Buch vor, für das er bereits in der Regierung die Idee hatte. Es erscheint an diesem Montag und ist nicht als Memoiren angelegt; zum Glück. Memoiren sind oft Dutzendware: erstens, weil Schreiben ein Handwerk ist, wie Regieren übrigens auch; indes ein Handwerk, das die wenigsten Politiker beherrschen. Die Folge ist, dass schreibende Politiker viel erwähnen, aber kaum erzählen - sowie, dass man immer bald merkt, worum es in all der Unbeholfenheit letztlich geht: um eine Selbstseligsprechung des Autors.
Thomas de Maizière weist darauf hin, dass bei ihm kein Ghostwriter, sondern nur er am Werk war. Und, was soll man sagen: Er kann schreiben. Auf den 252 Seiten stehen Hauptsachen in Hauptsätzen. Es ist praktisch frei von Phrasen. Seine Thesen unterlegt er mit Beispielen aus seinem Erleben. Zugleich liefert er schon vom Konzept her keine Dutzendware.
Wahrscheinlich die wenigsten wissen ja, dass Regieren eben auch ein Handwerk ist; geschweige denn, wie es funktioniert. Wer nichts weiß, stellt aber gern Vermutungen an, und bei manchen Menschen mutieren Vermutungen zu absonderlichen Gewissheiten. Zum Teil sind daran auch Politiker schuld; im Grunde haben sie, wie Angehörige anderer Berufe auch, eine Bringschuld, ihre Tätigkeit zu entmystifizieren. Bei ihr gibt es geschriebene und ungeschriebene Regeln, wie ebenfalls in jedem anderen Beruf auch.
Wegen dieser Bringschuld hat de Maizière geschrieben; das sagt er ausdrücklich. Seine Erfahrungen benutzt er, um Systemisches zu zeigen: wie eine Regierung gebildet wird. Welche Phasen eine Wahlperiode hat. Wie man aus Krisen lernt. Was die Unterschiede in der Arbeit eines Kanzleramts-, eines Verteidigungs- und eines Innenministers sind; all das war er.
Warum ein Minister beim Autofahren lesen können muss
Kanzleramtsminister zum Beispiel sollten lieber nicht in die Öffentlichkeit drängen. Tun sie es doch, treten sie garantiert einem Fachminister auf den Fuß und erschweren sich nur ihren Job. Der besteht ja zu einem guten Teil aus der Vermittlung zwischen Fachministern. Deshalb ist es für Helge Braun gut, dass praktisch keiner ihn im Café erkennen würde. (Helge Braun ist der derzeitige Kanzleramtsminister.)
De Maizière erklärt, was man als Minister unbedingt können muss: lesen während Autofahrten. "Wem dabei schlecht wird, der wird sein Arbeitspensum kaum schaffen." Er beschreibt, warum Koalitionsverträge lang sein müssen: weil jeder, auch das THW, erwähnt werden will. Und warum sie so langweilig zu lesen sind: weil Fachpolitiker sich nicht redigieren lassen.
Er erklärt, warum es neuerdings vor Koalitionsverhandlungen immer erst Sondierungsgespräche gibt, die das Ziel einer Einigung in einzelnen Fragen haben - weil Sondierungen nach den ungeschriebenen Regeln der Öffentlichkeit an Differenzen in der Sache scheitern dürfen, Koalitionsverhandlungen aber nicht. Also wollen "die Kritiker einer Koalition sicher sein, dass ihre Interessen schon früh gehört werden und nicht zu kurz kommen".
Indem er Strukturen erzählt statt Ereignisse, klärt er über beides auf. Warum hat die FDP im Herbst 2017 die Jamaika-Verhandlungen auch abgebrochen? Wegen der Länder. Die FDP wollte die Einkommensteuer senken. Diese aber wird zwischen Bund und Ländern geteilt. Also müssen Landespolitiker jeder Senkung zustimmen, also waren auch die SPD-Ministerpräsidenten implizit an den Gesprächen zwischen Union, FDP und Grünen beteiligt. Sie teilten mit, dass sie keiner Senkung zu ihren Lasten zustimmen würden - was für alle regierenden Landespolitiker aus Union, FDP und Grünen sehr praktisch war.
"Meine Erfahrung ist", schreibt de Maizière, "dass sehr viele, vielleicht die meisten Konflikte in solchen Verhandlungen nicht parteipolitischer Art sind." Wer übrigens selber ab und an Verhandlungen zu führen hat, dem gibt er zehn Grundregeln an die Hand. Die erste: "Verhandele stets so, dass du nicht einseitig der Bittsteller bist."
Es gibt Menschen, die kommen schlecht weg in dem Buch. De Maizière ist aber so vornehm, sie nicht zu identifizieren; mit einer Ausnahme: gelegentlich er selbst. Er gibt zu, 2013 das Kostendebakel um die Aufklärungsdrohne Euro Hawk als Verteidigungsminister "schlecht gemanagt" zu haben; die Sache hätte fast zum Rücktritt geführt.
Und er erzählt, wie er 2015 wegen einer Terrorwarnung ein Länderspiel in Hannover absagte, wie er in der Pressekonferenz gefragt wurde, ob die Lage vorbei sei und er nicht sagen wollte, dass da noch eine Bombenwarnung für den Hauptbahnhof war. Also sagte er: "Ein Teil dieser Antwort würde die Bevölkerung verunsichern." Tagelang wurde er verulkt dafür. "Natürlich hätte es bessere Antworten gegeben als die von mir gewählte, etwa: ,Die Lage ist vorbei, wenn alle sicher zu Hause sind'. Aber sie ist mir nicht eingefallen."
Zum Job von Politikern gehört es, öffentlich zu reden. Manche können es nicht, manche können es, und manche von letzteren reden trotzdem langweilig. Warum? Über Angela Merkel schreibt de Maizière, sie sei "sicher nicht die beste aller Redner". Aber die Kanzlerin müsse wie kein anderes Regierungsmitglied jedes Wort auf die Goldwaage legen. Denn jede Andeutung werde sofort verbreitet, "und zwar in der Kurzform einer Agenturmeldung. Aus einer Andeutung wird dann eine Ankündigung oder ein Versprechen gemacht."
Was de Maizière als "ehrabschneidend" empfand
Ihm selbst sei nachgesagt worden, zu sachlich zu sein. Aber angesichts von Terror sei es für einen Innenminister wichtig, seine Emotionen zu kontrollieren. "Sonst achten die Menschen nur auf die Emotionen des Ministers, und nicht darauf, was er an Warnungen mitzuteilen hat."
Eine Schärfe aber leistet er sich. Erstens gehört so etwas zu jedem richtigen Buch, zweitens hat dieser Autor keine Lust, sie sich zu verkneifen. Ausführlich beschreibt er, wie er im September 2015 mit seinen Juristen darüber debattierte, ob man die Flüchtlinge überhaupt zurückweisen dürfe.
"Wenn sich ein Minister nach langen Diskussionen einer Rechtsauffassung anschließt und eine Entscheidung trifft, die er für rechtmäßig hält, die aber manchen nicht gefällt, dann ist der Vorwurf eines Rechtsbruchs ehrabschneidend." Gemeint ist das Wort Horst Seehofers, in Deutschland gebe es seit 2015 eine "Herrschaft des Unrechts". Dieser ist übrigens in etwa der einzige derzeitige Spitzenpolitiker, dessen Name in dem Buch kein einziges Mal fällt.