Thilo Sarrazin und die Folgen:Hitler geht immer

Ob Thilo, Silvio, Oskar oder Herta: Die Provokation im öffentlichen Raum nimmt als Medienstrategie immer denkwürdigere Formen an. Besonders Vergleiche sind beliebt.

Evelyn Roll

Auch Medienstrategien haben mit frühkindlicher Prägung zu tun. Stellen wir uns also einen kleinen Jungen vor. Er könnte Thilo heißen, Oskar, Silvio, Franz Josef, gerne auch Roland. Er ist fünf Jahre alt und hat die eine oder andere narzisstische Kränkung bereits mit Allmachtsphantasien kompensiert, wie das, leider nicht nur in diesem Alter, üblich ist.

Thilo Sarrazin und die Folgen: Merkel mit Hitlerbart - da ist Empörung garantiert.

Merkel mit Hitlerbart - da ist Empörung garantiert.

(Foto: Foto: dpa)

Eines Tages, als die Erwachsenen wieder einmal in ihre sehr langweiligen Händel und Geschäfte vertieft sind und ihn schon eine ganze Weile nicht mehr bewundert oder auch nur wahrgenommen haben, probiert der kleine Junge plötzlich, überraschenderweise und sehr laut ein Wort aus, das die Mutter am Morgen noch außerordentlich aufgeregt und streng mit: "so etwas sagt man nicht" belegt hatte. Das Wort könnte "Blöder Nazi" heißen, "du Schwuchtel" oder: "Doppelficker".

Unser kleiner Junge, - es könnte selbstverständlich auch ein kleines Mädchen sein, das wir dann gerne Herta nennen würden, - hat überhaupt keine Ahnung, was das böse Wort bedeutet. Aber das Kind macht eine ganz großartige Erfahrung: Alle Erwachsenen schauen plötzlich zu ihm. Sie halten die Luft an, schlagen die Hand vor den Mund, empören sich, schütteln den Kopf, einige lachen. Das Kind lernt: Ein "Das-sagt-man-nicht" doch zu sagen, ist eine gute Strategie, um Aufmerksamkeit zu bekommen.

So einfach ist es. Und das ist es auch eigentlich schon. Man nennt es die Kunst der Provokation. Später, wenn unser kleiner Thilo längst Politiker ist oder Bundesbanker, der sich in einer modernen Mediendemokratie einrichten und arrangieren muss, lernt er bei Niklas Luhmann, dass man über diese so einfache wie eindrückliche Kindheitserfahrung ganze Bücher schreiben kann.

Für den Fall, dass er keine Bücher liest, haben gut bezahlte Spindoktoren ihm alberne Abkürzungen aus der Werbewirtschaft aufgeschrieben, die noch einmal dasselbe erklären. "AIDA with TBTD" zum Beispiel, das steht für: Attention, Interest, Desire, Action durch Tabu-Breaking Top-Down.

Es ist ja so: Viel wichtiger, lukrativer und karrierefördernder als Taten und Leistungen sind heute Bedeutung und Prominenz. Aufmerksamkeit ist die Währung. Und die Provokation, der gezielte Tabubruch also, ist, was das Herstellen dieser Währung angeht, immer und zuverlässig erfolgreich. Die verbale Provokation, der unpassende Vergleich und die öffentliche Beleidigung sind also niemals wirklich Ausrutscher oder selbstentlarvende Versehen.

Es handelt sich immer um eine so einfache wie nur gelegentlich gefährliche Medienstrategie im Durchlauferhitzer der Erregungsdemokratie. Sie stößt auf eine fein ausgesteuerte und leicht anzusteuernde Kultur von Empörung und Heuchelei, die zuverlässig anspringt. Jedes durch Sprech- und Denktabus eingeklemmte Publikum hasst und liebt deswegen den Provokateur.

Probieren Sie es selbst einmal aus: "Berlin ist belastet durch die 68er-Tradition und durch den Schlamp-Faktor. Es gibt dort auch das Problem, dass 40 Prozent der Geburten in der Unterschicht stattfinden. Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate... und ständig neue kleine Kopftuchmädchen.

Und wenn die Energiekosten erst so hoch sind wie die Mieten, werden sich die Menschen überlegen, ob sie mit einem dicken Pullover nicht auch bei 15 oder 16 Grad Zimmertemperatur vernünftig leben können."

Aufmerksamkeit durch Tabubruch

Man atmet ein und denkt: Endlich sagt's mal einer. Und dann entlastet man sich schon beim Ausatmen durch Heuchelei und Empörung: Aber so etwas sagt man doch nicht! Nicht in diesem Ton! Nicht mit diesen Vokabeln! Und schon gar nicht, wenn man Bundesbanker und SPD-Mitglied ist.

In Deutschland funktioniert Aufmerksamkeit erregen durch Tabubruch besonders gut und einfach, weswegen es auch Politiker und Publizisten gibt, die geradezu darauf spezialisiert sind. Das große nationalsozialistische Trauma hat eine einfache Rangordnung von Verbaltabus geschaffen, die jeder jederzeit abrufen und verletzen kann.

Hitler geht immer

Adolf Hitler zum Beispiel geht immer. Türkische und englische Medien stellen deswegen gerne deutsche Bundeskanzler oder Innenminister als Hitler dar oder vergleichen die Ostsee-Pipeline mit dem Hitler-Stalin-Pakt. Auch im Inland funktioniert Hitler sehr gut, ist aber auch gefährlich, weil dieses böse Wort gelegentlich mit Rücktritt bedroht ist.

Die rhetorische Figur des Vergleichs überfordert eine kollektive Intelligenz immer. Herta Däubler-Gmelin verglich ja nicht Bush mit Hitler, sondern nur Aspekte der Irak-Politik Bushs mit Aspekten der Hitlerschen Überfallstrategie. Sie musste trotzdem zurücktreten.

Routinierte Provokateure sagen statt Hitler deswegen gerne Goebbels (Kohl über Gorbatschow) oder Göring (Kohl über Wolfgang Thierse), das schafft hinreichend Empörung, ohne Rücktrittsrisiko. Noch besser - und auch ein bisschen feiger - als Göring und Goebbels passt Brüning. Da müssen die professionellen Diskurswächter den bösen Zusammenhang erst einmal selber nachschlagen, bevor sie der Moralgemeinschaft den Empörungszusammenhang erklären können.

Dann die Holocaust-Keule: immer für einen Dreispalter gut. Das Schicksal der Manager zum Beispiel mit verfolgten Juden zu vergleichen, damit haben Roland Koch, Hans-Werner Sinn und Christian Wulff sich bei ihrer Klientel angedient, ohne wirklich Schaden zu nehmen. Stimmt nicht ganz: Notorische Beleidiger von Nazi-Opfern laufen offenbar Gefahr, Wahlen in Hessen zu verlieren.

Oder eben: Aufmerksamkeit durch Empörung

Sehr probat und viel weniger gefährlich ist es, Aufmerksamkeit und Empörung durch das Verwenden von Nazi-Vokabeln zu erzeugen. Großpopulisten wie Franz Josef Strauß ("Ratten und Schmeißfliegen") und Oskar Lafontaine ( "Fremdarbeiter") haben damit beeindruckend experimentiert.

Eine dritte Kategorie ist das mutwillige Antriggern von Xenophobie, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit. Zuletzt hat Jürgen Rüttgers das mit den Rumänen versucht; und Berlusconi, dieser kleingewachsene, immunitäts- und haarverlustgeplagte Italiener mit: "Obama ist schön, jung und braungebrannt."

Sexuelle Verbaltabus laufen hierzulande nur noch in den ewigen Feuchtgebieten der Literatur und des Regietheaters oder zum eigenen Schaden, wie bei Thomas Goppel, der es rührenderweise versuchte mit: "Wowereit und Partner, die allabendlich versuchen, der Biologie ein Schnippchen zu schlagen."

Unaufgebrochene Empörungskultur schafft Heuchelkultur. Dafür ist das beste Beispiel der Antisemitismus. Weil jede kleinste Abweichung sofort geahndet und schon die Diskussion der israelischen Palästina-Politik in diesem Land allzu rasch in die Nähe von Antisemitismus gerückt wird, gedeiht Antisemitismus auf das Widerwärtigste im Unausgesprochenen, im Geheimen, im unterbewussten Narrativ, was ein auch gehirnphysiologisch interessanter Vorgang ist.

Überhaupt müssen die Lenker und Bewerter des großen Geschwätzes immer auch ein wenig aufpassen, sich nicht zu schnell zu empören und auch nicht über alles. Sie erzeugen sonst Langeweile auf der einen sowie Glattsprecher und Leerformelproduzenten auf der anderen Seite, die dann auch niemand mag.

Und noch etwas: Eine sehr probate Auflösung jeder gezielten Provokation ist immer der Empörungsentzug. Und die qualifizierte Nachfrage: Was genau, wollen Sie uns eigentlich mitteilen, Herr Sarrazin?

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: