Erst der Verteidigungsminister, nun die Ministerin für Entwicklungshilfe: Die britische Regierungschefin Theresa May hat zwei Minister innerhalb von sieben Tagen verloren. Priti Patel trat am Mittwochabend zurück, weil sie über geheime Treffen mit Vertretern Israels gelogen hatte. Vergangene Woche musste bereits Verteidigungsminister Fallon gehen. Er hatte Frauen belästigt. Auch andere Mitglieder des Kabinetts haben sich Fehlleistungen erlaubt, die in normalen Zeiten einen Rücktritt erzwingen würden. Aber die Zeiten sind nicht normal in Westminster. Es herrscht Chaos im Land.
Premierministerin May hat durch das Debakel bei den vorgezogenen Wahlen im Sommer alle Autorität in der Konservativen Partei eingebüßt. Sie wird als Regierungschefin nur noch geduldet, weil sich keine Alternative aufdrängt. May steht dabei einem Kabinett vor, das gespalten ist zwischen Brexit-Enthusiasten, die auf einen harten Bruch mit der EU drängen, und Pragmatikern, die der Wirtschaft zuliebe einen sanften Austritt anstreben.
Das Land bräuchte nun eine starke Führungspersönlichkeit, die den Kurs vorgibt und disziplinlose Minister auf Linie zwingt. Eine Premierministerin, die ihre Partei und die Bürger auf schmerzhafte Kompromisse bei den Austrittsverhandlungen mit Brüssel vorbereitet. Aber die Briten haben nur Theresa May.
Wichtigste Amtsträger sind inkompetent oder charakterschwach
Die machtlose Politikerin führt die EU-Debatte in London nicht, sie wird stattdessen von Brexit-Hardlinern am Nasenring durch die Manege geführt. Ein Machtvakuum ist entstanden, für das Großbritannien einen hohen Preis zahlen könnte: Die Gespräche über den Austritt, die am Donnerstag in Brüssel fortgesetzt wurden, kommen nicht voran, weil sich die britische Regierung selbst nicht sicher ist, welche Zugeständnisse sie machen will.
Zugleich erweisen sich Träger wichtigster Staatsämter als inkompetent oder von zweifelhaftem moralischen Charakter. May aber kann nichts tun. Zwei Minister sind zurückgetreten, doch Boris Johnson, der irrlichternde Außenminister, ist trotz peinlicher Aussetzer noch immer im Amt. Als populärster Kopf der Brexit-Kampagne ist er offenbar unkündbar. Gegen Mays Stellvertreter Damian Green läuft eine Untersuchung, weil er eine Frau belästigt und verstörende Pornos auf seinem Dienstrechner gespeichert haben soll. Er ist Mays engster Vertrauter, einer der wenigen, die sie hat. Und damit unkündbar.
Populisten und Ideologen haben die moderaten Politiker verdrängt
Im britischen Parlament finden sich - wie in den meisten Parlamenten - durchaus einige kluge, integre, pragmatische Abgeordnete. Auch im Kabinett gibt es Lichtblicke, etwa Innenministerin Amber Rudd. Doch May kann es sich nicht erlauben, diese Fraktion der Vernunft auf mächtigere Posten zu befördern und dafür Knallchargen und Querulanten rauszuwerfen. Bei jeder Entscheidung muss die Premierministerin abwägen, ob sie den EU-feindlichen oder den EU-freundlichen Flügel ihrer Partei vergrätzen könnte. May darf keinen Vorwand für eine Rebellion liefern. Also hält sie an Johnson genauso fest wie an anderen überfordert wirkenden Brexit-Fans.
Als die Briten beim EU-Referendum im Juni 2016 für den Austritt stimmten, votierten sie zugleich gegen das alte politische Establishment. Premier David Cameron trat zurück, und mit ihm verloren viele moderate und pragmatische Konservative Posten und Einfluss. Die Sieger der Volksabstimmung waren Populisten wie Johnson und Ideologen aus dem EU-feindlichen Flügel der Partei. Als Siegesbeute erhielten sie wichtige Ämter in der Regierung. Und seit der Wahlniederlage im Sommer gibt es auch keine starke Premierministerin mehr, die diese unheimlichen Aufsteiger in Zaum halten könnte. Eine verhängnisvolle Kombination. May lässt nicht erkennen, wie sie die Dynamik wenden will.