Theodor Herzl:Von der Machtlosigkeit zur Macht

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Lang ersehnte Staatsgründung: David Ben-Gurion proklamiert 1948 den Staat Israel. Über ihm ein Porträt von Theodor Herzl. (Foto: AFP/AFP)

Derek Penslar zeichnet ein treffliches Bild von Theodor Herzl. Er sieht den Visionär des "Judenstaats" weniger als großen Denker und Theoretiker, sondern als "amateurhaften Staatsmann".

Von Ludger Heid

Auch mehr als 100 Jahre nach seinem ersten Auftreten als Zionist ist Theodor Herzl (1860 - 1904) im heutigen Israel allgegenwärtig: eine Stadt ist nach ihm benannt, keine Stadt ohne Herzl-Straße. Der Mount Herzl in Jerusalem, vis-à-vis der nationalen Gedenkstätte Yad Vashem gelegen, steht symbolisch für den Übergang der Juden von der Machtlosigkeit zur Macht, von der Vernichtung zur Wiedergeburt, dem zentralen Ziel des Zionismus.

Zehn Jahre nach seinem Tod erschien 1914 im Jüdischen Verlag Berlin die erste Herzl-Biografie. Viele weitere folgten. Nunmehr hat der Harvard-Professor Derek Penslar seine biografische Studie vorgelegt, die Herzl als gescheiterten Staatsmann porträtiert.

Herzl, Jude der Religion nach, Ungar von Geburt, Österreicher durch seine Staatsbürgerschaft und Deutscher durch Erziehung und Kultur, ist ein Musterbeispiel für eine verwirrende, auseinanderstrebende vielschichtige Persönlichkeit.

Der Feuilletonist sieht sich als allmächtiger Führer

Vor dem Jahre 1896 war der zionistische Gedanke noch Utopie, eine verrückte Idee. Der Mann, der die Utopie zur Wirklichkeit umformte und den entscheidenden Durchbruch erreichte, war Theodor Herzl - ein Stückeschreiber in Wien, der bislang mit einigen Salonkomödien hervorgetreten war. Herzl war ein weltläufig gebildeter, erfolgreicher Feuilletonist, ausgestattet mit einem Stil makelloser Reinheit und ein mitreißender Redner mit einem Talent zur Selbstinszenierung. In seinen Tagebucheintragungen ab Sommer 1895 präsentierte er sich selbst als großer Staatsmann. Er schrieb, er werde im künftigen jüdischen Staat ein allmächtiger, Gehorsam verlangender Führer sein.

In Paris sollte Herzl für die Wiener Neuen Freien Presse vom Dreyfus-Prozess 1896 berichten. In diesem Verfahren ging es um den jüdischen Hauptmann im Generalstab, Alfred Dreyfus, der wegen angeblicher Spionage für Deutschland angeklagt und zu lebenslänglicher Verbannung verurteilt wurde. Den Prozess begleiteten antisemitische Ausfälle, die über Frankreich hinausstrahlten. Diese pogromistische Stimmung weckte in Herzl ein bislang wenig ausgeprägtes jüdisches Bewusstsein. Er verschrieb sich der Aufgabe, die Juden vor dem virulenten Antisemitismus zu retten und sie in einen eigenen Staat zu führen. Nur ein Staat, in dem die Juden über sich selbst bestimmten könnten, würde das "Judenproblem" lösen.

Die Affäre um Alfred Dreyfus (1859 - 1935), französischer Hauptmann und Generalstabsoffizier, veranlasste Herzl zu seinem Hauptwerk "Der Judenstaat". (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Mit seiner 1896 veröffentlichten Schrift "Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage", hatte Herzl gleichsam das Gründungsmanifest der zionistischen Bewegung verfasst. Die Broschüre verursachte Aufsehen. Ganz Wien sprach darüber - in einer Mischung aus Verärgerung und Überraschung. Auf das Staunen folgte die Verachtung. Herzls Ideen veränderten die geistige Situation des Judentums radikal, und der "Judenstaat" hatte dabei, so Stefan Zweig, die "Durchschlagskraft eines stählernen Bolzens".

Mit seiner Idee war es Herzl "blutig ernst"

Im Journalisten- und Schriftstellerverein "Concordia" fragte man Herzl: "Was wollen Sie in Ihrem Judenstaat werden? Ministerpräsident oder Kammervorsitzender?" Herzl jedoch war es "blutig ernst". Seinen Kritikern hielt er entgegen: "Wer in dreißig Jahren recht behalten will, muss in den ersten drei Wochen seines Auftretens für verrückt erklärt werden."

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Das erste Fazit seiner zionistischen Tätigkeit fiel nicht gerade bescheiden aus: "Fasse ich den Baseler Congress in ein Wort zusammen - das ich mich hüten werde öffentlich auszusprechen - so ist es dieses: in Basel habe ich den Judenstaat gegründet." Und er fügte hinzu: "Ich hetzte die Leute allmälig in die Staatsstimmung hinein."

Penslar vermeidet die Stilisierung zur Lichtgestalt

Manche seiner Biografen haben Herzl als eine überlebensgroße Lichtgestalt dargestellt und in ihm einen Propheten mit messianischen Zügen sowie als Märtyrer für sein Volk gesehen. Andere haben ihn als Phantasten und gescheiterten Diplomaten in seiner Rivalität mit anderen Zionisten beschrieben, seine psychischen Leiden, seine gestörten Familienverhältnisse und seine gar abgründigen Leidenschaften herausgehoben. Wie immer man ihn beurteilen mag, Herzl war eine außerordentliche Persönlichkeit in der langen jüdischen Geschichte, mit der eine neue Zeitrechnung begonnen hatte. Penslar wählt einen anderen Ansatz: Er vermeidet jedwede Form von Hagiografie ebenso wie die Dekonstruktion der Person Herzl. Für Penslar ist Herzl kein großer Denker, gleichwohl der "große Führer", dessen zionistische Schriften nicht als Traktate, sondern als Manifeste zu lesen seien - als Aufrufe zum Handeln, nicht als theoretische Diskurse.

Endlich ein Staat: Junge Israelis im Mai 1948 in Tel Aviv. (Foto: AFP)

Hatte Herzl sich im Jahre 1895 noch der Rettung der Juden verschrieben, wollte er danach auch ihr Führer werden. Und es gelang ihm, trotz seiner Stellung als säkularer, assimilierter, westlicher Jude, dem die Welt der traditionellen jüdischen Bräuche und Kultur fremd war, und obwohl er von außerhalb des jüdischen Establishments kam, als Akteur im Namen des gesamten jüdischen Volkes zu handeln.

Wilhelm II. ließ Herzl abblitzen

Herzl pendelte als zionistischer Unterhändler zwischen den europäischen Höfen hin und her - und gab sich staatsmännisch. Gleichwohl blieb er, so Penslar, ein "amateurhafter Staatsmann". Als Herzl 1898 vom deutschen Kaiser auf dessen Palästinareise im Zeltlager von Jerusalem empfangen wurde, war dieser in die Realität zurückgeholt worden. Die kaiserliche Audienz endete im Fiasko - Wilhelm II. ließ Herzl mit den Worten: "Der Zionismus ist eine prachtvolle Idee - nur mit den Juden ist sie nicht auszuführen", kühl abblitzen.

Unter welchen Realitäten wurde Herzls "Märchen" von einem national-jüdischen Staat wahr? Ist es ein Land geworden, dessen autochthone Bevölkerung von den Juden "unbemerkt über die Grenze geschafft" wurden, wie Herzl 1895 in sein Tagebuch notierte, oder eines, in dem, wie in seinem "Altneuland" beschrieben, Araber und Juden gleichberechtigt in einer friedlichen Gesellschaft zusammenleben? Ein Staat mit einer starken Armee oder das friedfertige Paradies aus seinem Roman? Wie immer man ihn retrospektiv beurteilen mag, Herzl war der Visionär des Judenstaats - der hozeh ha-medinah.

Derek Penslar: Theodor Herzl. Staatsmann ohne Staat. Eine Biographie, Wallstein Verlag, Göttingen 2022, 256 S., 24 Euro. (Foto: N/A)

Das letzte Wort über Herzl ist noch nicht geschrieben, was vor allem an dessen in seine Gefühlswelt Einblick gebenden Briefen - 6000 sind erhalten! - und Tagebüchern liegt, die seit 1983 bis 1996 siebenbändig vorliegen und eine unerschöpfliche Quelle kühner, mitunter auch verrückter Gedanken sind. Derek Penslar ist der aktuelle Herzl-Biograf. Er wird nicht der letzte sein.

Ludger Heid ist Neuzeithistoriker. Er lebt in Duisburg.

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