Süddeutsche Zeitung

Prozess um Betrug mit Schnelltests:"Ich war im Chaos versunken"

Im Prozess um falsch abgerechnete Corona-Tests hat der Angeklagte aus Bochum gestanden. Die Umrüstung der Busse in Teststationen sei ihm "über den Kopf gewachsen".

Von Jana Stegemann, Bochum

Die Entscheidung, die sein Leben für immer verändern wird, trifft Oğuzhan C. an einem Dienstag im April 2021. Damals ist C. ein vermögender Immobilienunternehmer aus Bochum, besitzt Kindergärten und ein Sportzentrum in Wattenscheid, war zeitweise Aufsichtsratsvorsitzender eines Fußball-Regionalligisten. C. hat sich aus einfachen Verhältnissen als Kind türkischer Gastarbeiter hochgearbeitet, er ist bekannt in der Bochumer Gesellschaft.

Seit Frühjahr 2021 betreibt C. mit seiner Firma Medican deutschlandweit Testzentren für Corona-Tests; hatte mehr als 40 Busse zu Teststationen umrüsten lassen. Die Nachfrage ist riesig, seit der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) die kostenlosen "Bürgertests" im März 2021 einführte und den Aufbau der Teststruktur fast komplett in private Hände legte - Kontrollmechanismen gibt es bis heute nicht, auch nicht unter dem neuen Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD).

Ermittler schätzen mittlerweile, dass Testzentren-Betrüger Steuergelder in Höhe von 1,5 Milliarden Euro erwirtschaftet haben könnten; deutschlandweit laufen Hunderte Ermittlungsverfahren. Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte müssen als Reparaturbetrieb fungieren, weil die Politik zum Betrug mit Corona-Tests geradezu einlädt. Gerade erst ist ein 20-Jähriger in Freiburg wegen Betrugs schuldig gesprochen worden: Er hatte etwa 5,7 Millionen Euro für ein Corona-Testzentrum kassiert, das er sich komplett ausgedacht hatte. Aufgeflogen war der Fall nur, weil seine Bank nach der hohen Überweisung der Kassenärztlichen Vereinigung misstrauisch geworden war.

Jetzt ist Oğuzhan C. der Hauptangeklagte im Strafprozess vor dem Landgericht Bochum, ihm wird Abrechnungsbetrug mit Corona-Tests in Millionenhöhe vorgeworfen. Es ist der erste Prozess in Nordrhein-Westfalen gegen einen Teststellenbetreiber. C. soll in nur zwei Monaten im Frühjahr 2021 fast eine Million Corona-Tests zu viel abgerechnet haben. Die Staatsanwaltschaft Bochum geht von 25,1 Millionen Euro Schaden aus. Die Ermittlungen waren überhaupt erst durch Recherchen von SZ, NDR und WDR ausgelöst worden.

Nach einem Geständnis bekommt der Angeklagte nicht mehr als 6,5 Jahre Haft

Anfang Juni 2021 kam C. in Untersuchungshaft, seit sechs Monaten läuft das Verfahren gegen ihn. Vergangene Woche hatten C.s Verteidiger überraschend angekündigt, dass C. gestehen wolle. Sein Geständnis am Dienstag ist eine Zäsur in dem zähen Prozess. Vorangegangen war ein sogenannter Deal mit dem Landgericht, ein oft genutztes Instrument in komplizierten Wirtschaftsstrafprozessen: Sollte er ein umfassendes Geständnis ablegen, versicherte ihm die Strafkammer, dass er nicht mehr als 6,5 Jahre Haft bekommen wird - aber auch nicht weniger als sechs Jahre. Mehr als 30 Zeugen und Zeuginnen sind bereits angehört worden, die 6. Wirtschaftsstrafkammer um den Vorsitzenden Richter Michael Rehaag ließ bisher nichts unversucht, den Fall aufzuklären.

"Ich war im Chaos versunken", so fasst C. seinen Zustand an dem Apriltag 2021 zusammen. Sein Verteidiger Jan-Henrik Heinz verliest in seinem Namen eine Erklärung, er braucht etwa 30 Minuten. Die "Gesamtsituation" habe dazu geführt, dass "ich bei der Abrechnung für den Monat März 2021 eine fiktive Anzahl von durchgeführten Tests angegeben habe", sagt C. Er habe "in Kauf genommen, dass ich erheblich mehr angab, als durchgeführt wurden. Es ging mir darum, liquide zu sein." Er sei "grandios gescheitert", bitte um Entschuldigung, bedauere den hohen Schaden und kündigte an, die 25,1 Millionen Euro "möglichst vollständig auszugleichen".

"Ich hoffe, am Ende alles wieder gutmachen zu können", so C. Er bedauere, dass er auch andere mit seinem Handeln in Schwierigkeiten gebracht habe, darunter seinen Sohn. Dieser verfolgte das Geständnis des Vaters aus dem Zuschauerbereich des Gerichtssaales. Das Verfahren gegen den 26-Jährigen war erst vergangene Woche gegen Geldauflage in Höhe von 10 000 Euro eingestellt worden; er hatte 2021 drei Wochen in Untersuchungshaft gesessen. Das Gericht war nach monatelanger Beweisaufnahme allerdings zu der Auffassung gekommen, dass C.s Sohn zwar förmlich Geschäftsführer des Teststellenbetreibers Medican gewesen war, der Vater jedoch im Alltag alle Entscheidungen getroffen habe.

Bisher sei er im Geschäftsleben "immer offen für gute Ideen und Geschäfte" gewesen, habe sich "ein sehr ordentliches Vermögen" aufbauen können, so Oğuzhan C. Vor allem, weil er "Perlen", damit meinte C. Grundstücke mit Entwicklungspotential, erkannt habe. Doch im Fall von Medican seien ihm die Geschäfte und die "enormen Kosten", vor allem für die Umrüstung der Busse, "über den Kopf gewachsen". Darum habe er "erheblich mehr" abgerechnet "in der ungefähren Größenordnung" der Anklage und "eine fiktive Anzahl von durchgeführten Tests angegeben, ohne zu wissen, wie viele tatsächlich erfolgt sind".

Neben dem Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, hätten sich "zahlreiche Stadtspitzen" bei ihm gemeldet und einen Bus angefordert, sagte C.

Medican sei damals sehr schnell gewachsen, das Motto habe gelautet: "Erst machen, dann regeln." Als dann noch die Zusammenarbeit mit einer etablierten Ticketing-Firma beendet worden war, sei er "in Versuchung geraten, falsch abzurechnen". Diese Firma hatte zuvor für Medican die Online-Terminbuchung an einigen Standorten übernommen.

Noch nicht aufklären konnte C. allerdings auf Nachfrage des Richters, was es mit Bargeldabhebungen von Geschäftskonten in Höhe von mehreren Hunderttausend Euro nach Bekanntwerden der Vorwürfe auf sich hat. Auch waren im Mai 2021 noch 2,6 Millionen auf ein türkisches Konto transferiert worden; davon sind nun nur noch etwa 700 000 Euro übrig. Sein Schwager habe, so C., etwa 900 000 Euro abgehoben, "um die Kosten für sein Leben in der Türkei sowie Dinge, die unbedingt bezahlt werden mussten, zu bezahlen". Gegen C.s Schwager liegt mittlerweile in Deutschland ein Haftbefehl vor.

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