Gewalt-Extremismus:Wellen von Tod und Leid

Lesezeit: 3 Min.

Erinnerung an den schwersten Anschlag in der Geschichte der Republik: Das 2020 eröffnete Dokumentationszentrum zum Oktoberfestattentat von 1980 leuchtet auf der Theresienwiese. Am Abend des 26. September 1980 wurden durch eine Bombe zwölf Wiesnbesucher sowie der Attentäter getötet. Mehr als 200 Menschen wurden verletzt. (Foto: Sven Hoppe/dpa)

Ein bildstarkes Lehrbuch der Bundeszentrale für politische Bildung spürt dem Terrorismus des 21. Jahrhunderts in all seinen Facetten nach, stellt kontroverse Fragen und leuchtet "blinde Flecken" aus. Einer davon: der Rechtsextremismus.

Von Joshua Beer

Es ist ein Bild, so lächerlich wie unheimlich: ein junger Mann auf einer Waldwiese unter einer viel zu großen weißen Haube in Ku-Klux-Klan-Manier, aus den quadratisch geschnittenen Augenlöchern ein todernster Blick. Am 26. September 1980 legt dieser Mann, 21 Jahre alt, eine selbstgebastelte Bombe in einen Papierkorb am Eingang des Münchner Oktoberfests. Sie löscht 13 Menschenleben aus, verletzt und vernarbt mehr als 200 weitere. Auch der Bombenleger stirbt in der Explosion. Das Oktoberfestattentat hat dem Nachkriegsdeutschland schmerzhaft beigebracht, dass Terrorismus nichts war, das Linksextreme gepachtet hatten - Stichwort Rote-Armee-Fraktion. Für viele wird es zum Symbol, als der schwerste Terrorakt in der Geschichte der Bundesrepublik.

Die Mär vom Einzeltäter hielt sich Jahrzehnte

Vierzig Jahre später aber ist die Erinnerung daran verblasst. Nun steigt ein neues Lehrbuch mit dem Namen "Terrorismus im 21. Jahrhundert" ausgerechnet mit dieser Tat in die Materie ein. Und mit dem Foto des Attentäters in weißer Haube: Gundolf Köhler, Student und Rechtsterrorist, "bei Schießversuchen mit einer selbst gebauten Panzerfaust". Herausgeberin Jana Kärgel, Extremismus-Referentin der Bundeszentrale für politische Bildung (BPB), demonstriert an dem Fall, wie sehr die Debatten um Terrorismus "immer auch ein Ringen um Deutungshoheit" sind. Denn erst Mitte 2020 kam die Generalbundesstaatsanwaltschaft - nachdem sie den Fall neu aufgerollt hatte - zum Ergebnis: "Gundolf Köhler handelte aus einer rechtsextremistischen Motivation heraus." Dabei war schon nach dem Anschlag klar, dass Köhler Kontakte zur rechtsextremen "Wehrsportgruppe Hoffmann" pflegte. Jahrzehntelang aber, so schreibt Kärgel, "hielt sich hartnäckig" das Bild vom "eigenbrötlerischen Verlierer", der gänzlich unpolitisch "aus übersteigertem Geltungsbedürfnis heraus gehandelt hat".

Solche Erklärungsmuster von Terrorakten leben in aktuellen Debatten fort, das vermag das Kompendium der BPB in zahlreichen Beispielen nachzuzeichnen. Das Buch mit dem Untertitel "Perspektiven. Kontroversen. Blinde Flecken" ist in jeder Hinsicht opulent: 500 Seiten, 33 Autorinnen und Autoren, mehr als 30 Beiträge - die leider nicht in einem zentralen Inhaltsverzeichnis erfasst sind -, aufwendige Grafiken und ein Bildreichtum, der eine separate Besprechung verdient hätte. Es handelt sich hier um die so umfassende wie lebhafte Aufarbeitung eines ganzen Forschungsfeldes, in dem sich viel tut. Begonnen mit einer Begriffsbestimmung, spürt das Buch den Wurzeln von Terrorismus in der europäisch-amerikanischen Moderne um 1800 nach, fragt nach seinen Ursachen und führt darüber dann ins 21. Jahrhundert.

Der Angriff von 9/11 als Zäsur - oder doch nicht

"Dreh- und Angelpunkt" markieren im Buch - wie auch in Politik und Forschung - die Anschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York. So tief es sich ins kollektive westliche Gedächtnis eingebrannt hat, ob 9/11 tatsächlich eine Zäsur ist oder nicht, daran "scheiden sich die Geister". In jedem Fall änderten die Anschläge grundlegend unser Bild von Terrorismus. Weil sie aber laut Herausgeberin Kärgel "in gewisser Weise 'auserzählt'" sind, stellt das Buch sie elegant als Fotostrecke dar. Und fügt damit den ikonischen Bildern der einstürzenden Türme weniger bekannte - aber nicht weniger spektakuläre - Motive hinzu. Da sind die entgeisterten Blicke der New Yorker, ihre gehobenen Köpfe und offenen Münder, während sie zuschauen, wie der Südturm zusammenfällt. Oder eine Gruppe junger Menschen, die scheinbar im Plausch versunken am Ufer des East River in Brooklyn in der Sonne sitzen, hinter ihnen der dicke, dunkle Qualm am blauen Himmel über Manhattan.

Die Trümmer der Twin Towers in New York nach der islamistischen Attacke im September 2001. (Foto: Timothy A. Clary/dpa)

Fotos von Tätern werden nicht gezeigt

Die üppigen Bilder tragen durch das ganze Lehrbuch - und wirken, ohne Sensationslust zu befriedigen: "Es gibt keine Fotos von zerfetzten Körpern, von Hinrichtungen oder von abgetrennten Körperteilen", kündigt Kärgel im Vorwort an. Allerdings "von Toten, von Trauer und Leid". Um den Tätern so wenig Raum wie möglich zu geben, ist von ihnen kein einziges Foto abgedruckt: Ihre Gesichter tauchen in kurzen Täterbiografien als Bleistiftzeichnungen auf, über die Augenpartien fließt Text wie ein Zensurbalken. Ansonsten liegt der Fokus auf Opfern und Betroffenen, nicht nur von Terror, sondern auch den Anti-Terror-Maßnahmen sowie von Rassismus.

Jana Kärgel (Hg.): Terrorismus im 21. Jahrhundert. Perspektiven. Kontroversen. Blinde Flecken. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2022. 488 Seiten, 7 Euro (bestellbar über www.bpb.de/shop) (Foto: bpb)

Den Autoren gelingt es, Einblick in die Forschung zu geben, aber dabei immer wieder in Szenen der Zerstörung, in Einzelschicksale hineinzuzoomen. Sie beleuchten, wie der Terrorismus sich nach 9/11 entwickelt hat, welche Rollen Frauen darin spielen oder wie sich Menschen in Zeiten von Internetforen, Memes und Social Media radikalisieren. Sie verdichten Debatten in griffigen Fragen: "Haben die Terrorist*innen gewonnen?" Oder: "Haben Terrorist*innen eine zweite Chance verdient?"

Vier "Wellen" gab es bisher. Wann kommt die fünfte?

Außerdem diskutieren sie, wie es weitergehen könnte. Laut dem "Standardnarrativ" der Terrorismusforschung gab es seit den 1880er-Jahren vier - jeweils um die 40 Jahre dauernde - "Wellen des Terrorismus", die anarchistische, die antikoloniale, die "Neue Linke" und die religiös-islamistische. Folgt man dem, stünden wir rein rechnerisch am Beginn einer neuen, fünften Welle. Womit man wieder beim Oktoberfestattentat wäre: Auffallend abwesend unter den Wellen ist die rechtsterroristische, die aus Sicht vieler bereits angehoben hat. Der Rechtsterrorismus zählt zu den "blinden Flecken", die das Buch ausleuchtet. Heimlicher Höhepunkt ist hier eine zweite Fotostrecke: Eindrücklich schildert sie die blutige Geschichte rechtsextremer Anschläge in der Bundesrepublik. Viele davon völlig vergessen. Wellen hin oder her, das Buch macht klar: Der Rechtsterrorismus ist in Deutschland - so zeigen die NSU-Morde und jener an Walter Lübcke - eine traurige Konstante.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: