Terrorismus in Deutschland:Der Vorrat an Glück

Deutschland - Niederlande abgesagt

Polizisten am 17. November vor dem geschlossenen Stadion in Hannover: Wegen einer Terrorwarnung war an dem Tag ein Länderspiel abgesagt worden.

(Foto: dpa)

Islamistischer Terror trifft nur die anderen, denken die Deutschen. Doch dass bisher viele Anschläge verhindert wurden, garantiert gar nichts.

Von Annette Ramelsberger

Angst vor dem Terror gibt es nicht erst seit dieser Woche, aber meistens ist sie abstrakt. Diese Woche wurde es konkret. Ein ganzes Fußballstadion wurde geräumt, die U-Bahn in Hannover fuhr die Hälfte der Haltestellen nicht mehr an, um Attentätern kein Ziel zu bieten. Polizisten in Kampfmontur patrouillierten. Ein Innenminister musste vor die Öffentlichkeit treten und sagen, die Lage sei "ernst, wirklich ernst".

Doch in Wahrheit ist sie das seit Langem. Immer wieder hat es in den vergangenen 15 Jahren auch in Deutschland Terroristen gegeben, die sehr nah daran waren, ihre Bomben zu zünden. Die Sauerlandgruppe wurde im September 2007 gefasst, als sie gerade dabei war, ihren Sprengstoff einzukochen. Sie wollte ihre Bomben auf Flughäfen werfen oder auf "Discos mit amerikanischen Schlampen". Durch einen Hinweis der Amerikaner kamen die deutschen Behörden ihr auf die Spur.

Kurz darauf versuchte eine Düsseldorfer Gruppe, ebenfalls Sprengstoff für einen Anschlag vorzubereiten. Wieder griff die Polizei zu. Wieder hatte sie Informationen bekommen.

Die Lage ist schon lange ernst

Und bei den versuchten Bomben-Attentaten von Köln und Bonn hatte sie keine Hinweise, sondern Glück: Als zwei libanesische Studenten kurz nach der Fußballweltmeisterschaft im Juli 2006 in Köln zwei Bomben in Vorortzüge legten, da funktionierten die Zünder nur wegen eines geringfügigen handwerklichen Fehlers nicht. Aber die Bomben waren sprengbereit. Als das Bundeskriminalamt die Bomben nachbaute und explodieren ließ, entstand ein Feuerball, der den ganzen Waggon zerstört hätte. Auf 80 mögliche Tote schätzten die Ermittler die Folgen.

Auch der deutsche Konvertit Marco G. konnte im Dezember 2012 unbemerkt eine scharfe Bombe auf den Bonner Hauptbahnhof ablegen. Kinder fanden die Tasche und alarmierten die Polizei. Die Bombe konnte noch rechtzeitig zerstört werden. Marco G. steht derzeit vor Gericht. Im Gerichtssaal reckt er gern den Zeigefinger zum Himmel, das Zeichen dafür, dass der Islam über allem steht. "Allahu Akbar", ruft er.

Unter Geheimdienstlern in Europa gilt längst der Satz: "Es ist nicht mehr die Frage, ob ein Anschlag geschieht, sondern nur noch, wann er geschieht." Das wird durch das Schreiben der IS-Terroristen zu den Anschlägen von Paris unterstrichen: Ausdrücklich kündigt der "Islamische Staat" eine ganze Serie von Attentaten an. Und um Angst zu säen, reicht es, wenn er nur bei einem Mal Erfolg hat. Der frühere BND-Präsident August Hanning sagte schon vor Jahren: "Man kann fünfmal, sechsmal, siebenmal Glück haben. Beim achten Mal hat man kein Glück mehr."

Wer redet, ist ein Sicherheitsrisiko

Deutschland hat bisher sehr viel Glück gehabt. Islamistische Terroristen planten in den vergangenen Jahren in Deutschland knapp ein Dutzend Anschläge auf Bars, Diskotheken und Züge. Sogenannte weiche Ziele, also Orte, die sich nicht wirklich schützen lassen. Nur hat diese Bedrohung kaum jemand mitgekriegt.

Der Schutz der Sicherheit ist ein diskretes Geschäft. Wer redet, der gilt schnell selbst als Sicherheitsrisiko. Deswegen sagt Innenminister Thomas de Maizière lieber zu wenig als zu viel. Das erklärt seinen berühmten Satz: "Ein Teil dieser Antworten könnte die Bevölkerung verunsichern."

Auch wegen der praktizierten Diskretion fühlten sich die Deutschen all die Jahre wie auf einer Insel der Seligen. Alle anderen traf es: die Spanier 2004, die Engländer 2005, die Franzosen Anfang des Jahres und jetzt. Aber Deutschland? Es ist doch nie etwas passiert, zumindest fast nichts.

420 islamistische Gefährder

Aber stimmt das überhaupt? Erst vor ein paar Wochen, am 17. September, griff in Berlin der polizeibekannte Islamist Rafik Y. eine Streifenpolizistin an und stach auf sie ein. Vom Kollegen der Polizistin wurde er erschossen. Der Mann war im Jahr 2008 in Stuttgart-Stammheim in einem Terrorprozess zu acht Jahren Haft verurteilt worden. Damals wollte er einen Anschlag in Berlin begehen. Er beschimpfte die Richterin als "Flittchen" und rief der Staatsanwältin zu: "Du Arschloch, du bist eine Frau." Nun war er wieder in Freiheit. In der Ausländerbehörde drohte er: "Wir werden euch köpfen."

Leute wie Rafik Y. nennt die Polizei Gefährder. Ein Gefährder war angeblich auch in der Nähe des Fußballstadions von Hannover. Das war eines der Indizien, die zur Absage des Spiels zwischen den Niederlanden und Deutschland geführt haben. Ein Gefährder - die Nennung des Wortes reicht, um die Verantwortlichen das Schlimmste befürchten zu lassen. Gefährder sind Menschen, denen die Polizei zutraut, dass sie jederzeit zuschlagen könnten. Ohne Ankündigung. Ohne große Verabredung. Ohne, dass es die Polizei mitkriegt. Sie gehen los, besorgen sich eine Waffe und feuern - oder sie nehmen ihr Messer in die Hand wie Rafik Y.

420 islamistische Gefährder gibt es bundesweit. Das hört sich überschaubar an. Doch man braucht gut 30 Leute, um einen Verdächtigen rund um die Uhr so zu überwachen, dass er es nicht merkt. 30 Leute, die sich bei mehr als 400 Gefährdern schnell auf 12 000 Polizisten multiplizieren. Beamte, die man nicht über Monate aus ihrem normalen Dienst abziehen kann.

Verunsichern ist alles, was wir können

Wer diese Hintergründe kennt, kann die Worte des Innenministers deuten, wenn er - wie nach der Absage des Länderspiels - sagt: "Wir wollen die Gefährderszene verunsichern." Es bedeutet: Verunsichern ist alles, was wir können. Mal gibt es eine Durchsuchung, mal eine Festnahme. Doch meistens geht der Staatsschutzbeamte brav an die Tür des Verdächtigen und lässt ihn wissen, dass man ihn im Blick hat. Man nennt das Gefährderansprache. Ein gewaltbereiter Heimkehrer aus Syrien lässt sich aber vom erhobenen Zeigefinger an der Wohnungstür kaum beeindrucken. 230 dieser Männer gibt es nach Zählung des BKA. Und man wird sie auch nicht los: Viele haben die deutsche Staatsbürgerschaft. "Es ist ein Tanz auf Messers Schneide", sagt ein Staatsschützer.

Terrorismus in Deutschland: undefined

Die deutschen Sicherheitsbehörden versuchen es seit dem Jahr 2004 mit Qualität statt mit Masse. Hinter hohen Mauern in Berlin-Treptow sitzt seitdem das GTAZ, das "Gemeinsame Terrorabwehrzentrum" von Bund und Ländern. Und darin arbeiten Seite an Seite Polizisten, Verfassungsschützer, Staatsanwälte, Islamforscher, Finanzermittler - Beamte aus 40 Sicherheitsbehörden. Dort arbeiten sie auch jetzt jeden Tipp ausländischer Geheimdienste ab, wie den auf die Gefahr in Hannover. Ohnehin kommen die meisten Warnhinweise aus dem Ausland. Deswegen tut sich Berlin auch so schwer, den USA nach dem Abhörskandal wirklich Konsequenzen auch nur anzudrohen. Die Deutschen sind abhängig von den Erkenntnissen der Amerikaner.

Vor dem 11. September 2001 war es den Deutschen entgangen, dass sich die Verschwörer um Mohammed Atta in Hamburg auf ihren Angriff aufs World Trade Center vorbereitet hatten. Danach fanden sich Bund und Länder, Polizei und Geheimdienste endlich im GTAZ zusammen. Es war ein Schritt, der gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Denn die Vorbehalte zwischen Geheimdiensten und Polizei, zwischen Bund und Ländern sind groß.

Noch immer befürchten die Dienste, die Polizei wolle gleich losschlagen, wenn sie ihr Wissen mit ihr teilen - und damit die mühevoll aufgebauten Zugänge in die Islamisten-Szene zerstören. Wie die Geheimdienste noch immer selbst bei schweren Straftaten ihr Wissen zurückhalten, wie sich die Bundesländer abschotten gegen die Wissbegier der Nachbarn: Das kann man seit der Enttarnung der Terrorgruppe NSU sehr gut besichtigen, jede Woche im Gericht und in den verschiedenen Untersuchungsausschüssen. Da treten Beamte auf, die sich vermummen und verkleiden, die dem Richter nicht ihren wahren Namen nennen wollen und die sichtlich überfordert sind mit der Aufgabe zu erkennen, wo sich Gefahren zusammenbrauen.

Es gibt auch Gefährder von rechts

Dabei sind gerade die Geheimdienste in den kommenden Jahren gefordert: Denn nicht nur die Islamisten radikalisieren sich. Es gibt auch die Gegenbewegung, und die gilt als zunehmend gefährlich: Der NSU mag zerschlagen sein, aber Rechtsradikale begehen immer mehr Anschläge auf Flüchtlinge und die Menschen, die sie unterstützen.

Erst im Oktober verübte ein Rechtsradikaler einen Mordanschlag auf Henriette Reker, die jetzige Kölner Oberbürgermeisterin. Sollte ein islamistischer Anschlag in Deutschland verübt werden, könnte es zu "Resonanztaten" kommen, so nennt das Innenminister de Maizière: Racheakten an Flüchtlingen, die von den Tätern in Mithaftung genommen werden für islamistische Terroristen. Übergriffe auf Flüchtlingsheime sowie Überfälle auf Ausländer galten bisher noch nicht als Terror. "Bis jetzt waren das für die Polizei immer nur Einzeltäter, Spinner oder Waffennarren", sagt der CDU-Innenpolitiker Clemens Binninger. Diese Einschätzung aber sei nicht mehr zu halten.

Deutschland ist vor Terror nicht gefeit

Es gibt Gefährder von rechts. Mancher Staatsschützer befürchtet, dass sich dort terroristische Strukturen bilden - die Generation nach dem NSU. Menschenverachtender Terror ist der rechtsextremen Szene alles andere als fremd: Der größte Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik wurde durch den Neonazi Gundolf Köhler verübt, 1980, auf das Münchner Oktoberfest. 13 Menschen starben, Köhlers Hintermänner wurden nie gefunden.

Deutschland ist vor Terror nicht gefeit. Selbst wenn man die Zahl der Polizisten stark erhöhen würde, wie die Amerikaner. Selbst wenn man an jeder Straßenecke Videokameras aufstellen würde, wie die Briten. Selbst wenn man die Abhörgesetze verschärfen würde, wie die Franzosen. Ein zu allem entschlossener Terrorist ließe sich durch nichts abschrecken. Er will ja den Tod, gern auch den eigenen.

Mehr Wanzen, mehr Videokameras, mehr Internet-Ermittlungen - das alles kann helfen, Täter zu finden. Aber nur selten, um Taten zu verhindern. "Da müsste man schon Gedanken lesen können", sagt ein Fahnder. Wie hätte man zum Beispiel Arid Uka ansehen sollen, was er vorhatte? Der junge Frankfurter nahm am Morgen des 2. März 2011 die S-Bahn zum Flughafen, fragte dort zwei GIs, ob sie nach Afghanistan fliegen, und teilte eine Zigarette mit ihnen. Dann feuerte er. Zwei Menschen starben, zwei wurden schwer verletzt.

Es war der erste islamistische Terrorakt, bei dem Deutschland kein Glück mehr hatte.

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