Terrorgruppe Islamischer Staat:An der göttlichen Mission festhalten

IS-Kämpfer in Rakka, Syrien

IS-Parade in Rakka, Syrien, im Juni: Die radikalen Islamisten sind durch Beute aus den Depots der Amerikaner bestens ausgerüstet - auch mit Panzern.

(Foto: AP)

Erst wurde der IS sträflich unterschätzt, jetzt glaubt mancher Experte, die radikalen Islamisten hätten den Zenit ihrer Macht schon überschritten. Einige sprechen schon vom "Ikarus-Moment". Aber vielleicht ist das Kalifat lernfähiger als der Westen meint. Auf einen schnellen Zerfall wird man kaum hoffen dürfen.

Von Georg Mascolo

"Es war einfacher, Isis zu ignorieren, als sie zu zerstören." Mit diesem Satz beklagt der amerikanische Journalist und Schriftsteller George Packer, dass Amerika und der Rest der Welt den Wiederaufstieg einer Mörderbande erst viel zu spät zur Kenntnis nahmen. Gegründet und dann beinahe besiegt im Irak, zog Isis, heute IS (Islamischer Staat) genannt, in den syrischen Bürgerkrieg. Und was dort geschieht, schaffte es in der letzten Zeit kaum in die Nachrichten und auf die Schreibtische in den Regierungszentralen.

Erst seit der IS die Armee des Irak in die Flucht schlug, Mossul eroberte und Gemetzel unter all denjenigen anrichtet, die ihre Ideologie oder ihre Auslegung des Glaubens ablehnen, regt sich Widerstand in Washington und in Berlin. All diejenigen, die in ihren Dörfern und Städten IS-Kämpfern begegnen mussten, unterschätzten die Gefahr schon lang zuvor nicht mehr.

Am 29. Juni wurde der Islamische Staat ausgerufen, er kontrolliert ein Gebiet so groß wie Jordanien. Der IS will das Kalifat nach Libanon ausdehnen, dann gäbe es einen Terrorstaat am Mittelmeer. Keine terroristische Organisation hat, so sagen es amerikanische Experten, jemals ein so großes Gebiet regiert - und aufgrund der Plünderungen von irakischen Waffendepots - über solche Kampfkraft verfügt.

Kurz vor dem 13. Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001 träumen Islamisten nicht nur in Syrien und dem Irak vom Kalifat, sie sind an vielen Orten auf der Welt erschreckend stark. So unterschiedliche Staaten wie Mali, Libyen, Kenia, Nigeria oder Afghanistan sind davon betroffen, die Liste ist noch weit länger. US-Präsident Barack Obama wird angesichts dieser Lage nur noch ungern an seinen Satz erinnert, dass "al-Qaida auf dem Weg zur Niederlage ist".

Anderen islamistischen Terrorgruppen geht die Brutalität des IS inzwischen zu weit

Zumindest formal steckt noch ein Rest Wahrheit in dem Satz, Spannungen und Widersprüche zwischen den Glaubensbrüdern haben zugenommen, die Terroristen streiten offen darüber, wie viel Gewalt angemessen ist. Al-Qaida muss 26 Jahre nach Gründung um seine Autorität fürchten. Für alle sichtbar wurde es in diesen Tagen, als die mit al-Qaida verbündete Jabhat al-Nusra den amerikanischen Journalisten Peter Theo Curtis frei ließ, während ein IS-Kämpfer den Reporter James Foley vor laufender Kamera enthauptete.

In dem abscheulichen Vorgehen von IS und ihrem selbsternannten Kalifen Abu Bakr al-Bagdadi aber liegt nach Überzeugung mancher Terrorismus-Experten zugleich die Hoffnung, dass der IS die erfolgreichste Zeit schon hinter sich haben könnte, von einem "Ikarus-Moment" ist gar schon vereinzelt die Rede. Der Bundesnachrichtendienst ist in diesen Wochen zu einer ähnlich verhaltenen Einschätzung gelangt, die er der Regierung in Berlin vorlegte.

Derzeit sei die Organisation noch auf dem Vormarsch, der Erfolg nähre, wie im Nahen Osten üblich, den Erfolg. Einstmals rivalisierende dschihadistische Gruppierungen schlössen sich dem IS an, von den circa 15 000 Kämpfern seien etwa 6000 bestens ausgebildet, hochrangige Offiziere des Saddam-Regimes gehören angeblich zum engsten Führungskreis. Nun heißt es, auch Husseins Tochter unterstütze den Kampf.

Durch die Beute aus den Depots der zumeist von den Amerikanern aufgerüsteten irakischen Armee verfügen sie danach über Panzer, Geländewagen, Luftabwehrraketen und moderne Geschütze.

Militärisch und gesellschaftlich scheitern

An ihren Sieg glaubt der BND dennoch nicht, der IS werde "längerfristig militärisch und gesellschaftlich scheitern", heißt es in der Analyse. Die fundamentalistische Ideologie des IS werde von den meisten Sunniten abgelehnt, die sunnitischen Unterstützergruppen würden nur durch ihre "eigenen opportunistischen Interessen geleitet", die nichts mit der Kalifat-Idee zu tun hätten. Deshalb werde das Zweckbündnis zur Bekämpfung des ungeliebten irakischen Zentralstaates auch zerbrechen. Kaum jemand wolle von diesen Fanatikern regiert werden. "Nicht kompatibel mit den Lebensvorstellungen der ansässigen Bevölkerung", nennt das der BND.

Für diese schöne Hoffnung gibt es ein Vorbild. Den Amerikanern gelang es Jahre nach dem Einmarsch im Irak, die sunnitischen Stämme aus ihrer Allianz mit al-Qaida herauszubrechen. Der kluge US-General David Petraeus lockte die Sunniten mit Geld, Waffen und dem Versprechen auf Teilhabe an der Macht. So versucht es die US-Regierung jetzt wieder, denn nach ihrem Abzug zerfiel der fragile Frieden. Der neue irakische Premier Haider al-Abadi soll die sunnitischen Stämme dauerhaft einbinden - und damit zu Verbündeten im Kampf gegen den IS machen.

Ehemalige Soldaten des Saddam-Regimes kämpfen offenbar für das Kalifat

Und eine weitere Parallele existiert: Schon 2005 gab es unter den Radikalen heftigen Streit darüber, ob nicht grenzenloser Terror am Ende die Menschen abstößt, sie zu Feinden macht, deren Übermacht sich auch durch größte Brutalität nicht mehr besiegen lässt. Der heutige Al-Qaida-Chef Aiman al-Sawahiri hatte den Begründer der späteren IS-Truppe, Abu Mussab al-Sarkawi, genau davor gewarnt. "Das Ziel des Kalifats wird ohne öffentliche Unterstützung nicht zu erreichen sein." Wie ein strenger Vater mahnte er etwa ein Ende der Gemetzel unter den Schiiten an, um den Kampf um "Herz und Verstand" der Muslime nicht zu verlieren.

Im ausgerufenen Kalifat geht es schlimmer zu als unter Sarkawis Herrschaft. Bagdadi soll ein Schüler und Protegé des 2006 bei einem US-Luftangriff getöteten Sarkawi gewesen sein. Offenbar scheint er entschlossen zu sein, dessen Werk fortsetzen zu wollen. Deshalb sind in seinem Kalifat alle vogelfrei, die zu einem Gott beten, den der IS nicht anerkennt, oder auch nur ihre irrsinnige Auslegung der sunnitischen Lehre anzweifeln. Rauchen auf der Straße kann ebenso lebensgefährlich sein, wie sein Gesicht unverschleiert zu zeigen oder während der fünf Gebetszeiten auf die Straße zu gehen. "Kalif" Bagdadi brach früh mit Sawahiri, der nach dem Tod Bin Ladens al-Qaida führt: "Ich muss zwischen der Herrschaft Allahs und der Herrschaft Sawahiris entscheiden, und ich entscheide mich für die Herrschaft Allahs."

Ob die Hoffnung zu Recht besteht, dass der IS sich ein zweites Mal selbst zerstört, wird die Zeit zeigen. Womöglich erweist sich auch der IS als lernfähig - einzelne Anzeichen zumindest gibt es: Strom- und Wasserversorgung funktionieren in Teilen der besetzten Gebiete, auch eine rudimentäre Verwaltung gibt es, die sogar Blumen an den Straßen pflanzen lässt. Auf einen ganz schnellen Zerfall des Kalifats jedenfalls wird man kaum hoffen dürfen. So werden jetzt amerikanische und deutsche Waffen im Irak zum Einsatz kommen, damit das Kalifat zumindest nicht noch größer wird, noch mehr Öl- und Gasfelder kontrolliert, die zusammen mit erhobenen Steuern in den besetzten Gebieten und der Erpressung von Lösegeldern den IS zu einer reichen Organisation gemacht haben.

Um einen echten Sieg zu erzielen, so debattiert in diesen Tagen die amerikanische Politik, müssten womöglich IS-Stellungen in Syrien bombardiert werden. Das Assad-Regime hat schon Zusammenarbeit mit den USA angeboten. Was aber würde aus dem IS, wenn das Kalifat zerfällt? Der BND erwartet, dass es dann zunächst einmal schlimmer wird, der IS würde "mit vehementem Trotz reagieren" und an seiner "göttlichen Mission festhalten". Statt militärischer Auseinandersetzungen erwartet der deutsche Geheimdienst dann klassische Terroranschläge in der Region, aber möglicherweise auch im "westlichen Ausland". Sogar die Gefahr einer spektakulären Attacke, eines "terroristischen Fanals" steige dann.

Und was würde aus den ausländischen Kämpfern? Allein nach Syrien zogen innerhalb von zweieinhalb Jahren mehr von ihnen als in 25 Jahren nach Afghanistan. Allein mehr als 400 aus Deutschland sind nach Einschätzung des Verfassungsschutzes in die Region gereist, viele sollen sich dem IS angeschlossen haben. Der Prediger Anwar al-Awlaki schrieb, bevor ihn eine US-Drohne tötete: "Der Dschihad wird so amerikanisch wie Apfelkuchen und so britisch wie Fünf-Uhr-Tee." Inzwischen ist er auch so deutsch wie der Morgenkaffee.

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